The Bards Tale 01 - Die Burg der Verräter
heftig den Atem einsog. Gefangen in einem Gemisch aus Verblüffung und Entsetzen starrte er, bis ihm die Augen weh taten, auf einen blassen Schimmer über dem Lagerfeuer, der sich langsam zu der Gestalt eines Mädchens verdichtete …
Charinas Geist …
Sie war nicht so berückend wie ihre Fälschung. Ihr Haar war blaßblond, nicht honigblond, ihr Gesicht eher hübsch als wirklich schön. Und dennoch war sie gerade wegen dieser mangelnden Perfektion so viel charmanter, daß Kevin glaubte, es würde ihm das Herz brechen. Er fühlte, daß seine Wangen naß waren vor Trauer über das, was hätte sein können.
»Wer seid Ihr?« fragte Naitachal in menschlicher Sprache. Seine Stimme war voller Güte.
»Ich … war … ich bin …« Die geisterhaften blauen Augen weiteten sich vor Furcht. »Ich kann mich nicht erinnern … Warum bin ich hier? Wo bin ich?«
»Ihr müßt Euch erinnern. Wer seid Ihr?«
»Ich … Ich … kann nicht …«
»Ihr müßt es. Wer seid Ihr?«
»Kann nicht!«
Kevin wollte hinauschreien: »Laß sie in Ruhe! Kannst du nicht sehen, daß sie es wirklich nicht weiß?« Doch irgendwie schaffte er es, jedes Geräusch zu vermeiden, während Naitachal unerbittlich wiederholte:
»Wer seid Ihr?«
»Charina!« schrie der Geist urplötzlich heraus. »Ich bin Charina!«
Der Dunkle Elf ließ den Kopf sinken, und Kevin konnte hören, wie er nach Luft rang. Nach einem kurzen Augenblick fuhr Naitachal mit liebevoller Stimme fort.
»Wo seid Ihr, Charina?«
»Ich … Ich weiß nicht … Es ist so dunkel … dunkel und kalt … so kalt … ich … will es nicht wissen!«
»Denkt nicht weiter darüber nach«, raunte der Dunkle Elf beruhigend. »Geht in der Erinnerung zurück. Zurück.
Denkt an den Tag, daran, wie er war. Der Tag vor der Dunkelheit. Könnt Ihr ihn sehen?«
Ihre verängstigte Miene schien sich aufzuhellen. »Ja.«
»Wo seid Ihr, Charina?«
»Die Burg. Die Burg meines Onkels. Ich bin oben auf den Wällen und … oh, seht nur, dieses hübsche Ding!«
»Was macht Ihr, Charina?«
»Ich beuge mich vor, um das – Nein! Nein! Bitte, nicht! Nein! «
Das blanke Entsetzen in diesem Schrei schnitt Kevin ins Herz. Oh, Naitachal, nicht! Laß sie in Frieden!
Aber der Dunkle Elf redete leise weiter. »Wer ist es, Charina? Was tut er?«
»Onkel! Onkel, bitte! Ich werde es niemandem erzählen! Ihr dürft mich nicht töten!«
»Wer hat Euch getötet, Charina?«
»Ich … Mein Onkel hat mich getötet! Er hat mich von den Zinnen gestoßen, als es niemand sehen konnte. Er hat mich getötet und meinen Leichnam dann einen Müllschacht hinabgeworfen!«
Sie brach in eine peinerfüllte Totenklage aus und schaukelte mitten in der Luft vor und zurück. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, winkte Naitachal den anderen heftig zu, wegzugehen. Sie standen behutsam auf und krabbelten ohne jeden Widerspruch hinter die Planwagen.
»Oh, das arme Kind!« flüsterte Lydia. »Sie hatte nicht einmal die Chance, ihr Leben zu leben, bevor dieser Bastard …!«
Berak brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Jetzt kommt der schwierigste Teil.« Seine Stimme klang so sanft, daß sie kaum zu verstehen war.
»Jetzt muß er ihr helfen, mit ihrem eigenen Tod fertigzuwerden und endlich Ruhe zu finden.«
Sie warteten schweigend, während die Zeit zäh dahinschlich. Endlich kam Naitachal zu ihnen. Er taumelte, sagte kein Wort, sondern sank zu Boden, den Kopf in die Hände gelegt. Berak hockte sich neben ihn, murmelte etwas auf Elf isch, und Naitachal nickte. Der Weiße Elf nickte ebenfalls und kehrte zu Kevin und Lydia zurück.
»Es ist vollbracht«, sagte er leise. »Das arme, verlorene Kind ist fort.«
Naitachal blieb weiterhin sitzen, wo er war, und hatte den schwarzen Mantel wie ein Leichentuch um sich gehüllt. Plötzlich konnte Kevin es nicht mehr länger ertragen. Seritha braute bereits einen ihrer Kräutertees, und der Bardling holte sich eine Flasche von ihr und kehrte damit zu dem Dunklen Elf zurück.
»Naitachal? Naitachal, ich bin es, Kevin.«
Der Dunkle Elf hob langsam den Kopf. Seine Augen waren erloschen.
»H-hier.« Der Bardling hielt ihm hartnäckig die Flasche hin. »Trink.«
Einen Moment lang wußte er nicht, ob Naitachal gehorchen würde, doch dann nahm der Dunkle Elf ihm die Flasche ab. Seine Hand war so kalt wie die eines aus dem Grabe Auferstandenen. Naitachal umfaßte die Flasche kurz mit beiden Händen und nahm dankbar ihre Wärme auf, bevor er trank. Eine Zeitlang saß er mit
Weitere Kostenlose Bücher