The Forest - Wald der tausend Augen
zu, alle gieren nach mir.
In mir steigt Panik auf. Dann erinnere ich mich an die Zäune. Die Zäune beschützen mich. Ich suche nach dem Zugang zum Tunnel, aber er ist nicht da. Der Boden ist weich, ich kann nicht mal einen Stock als Waffe finden. Die Ungeweihten schlagen gegen den Maschendrahtzaun, sie schieben und ziehen. Mein Kopf schwillt an von ihrem Gestöhne.
Sie rufen meinen Namen. »Mary … Mary … Mary«, tönt es wie eine Litanei. Aus ihren Mündern quillt Blut. Jeder Ungeweihte ist meine Mutter, Harry, Cass oder Jakob.
Sie recken die Hände nach mir, mit Fingern wie Klauen zeigen sie auf mich. Ihre Vorwürfe treffen mich wie ein Schlag, wie ein Sturm, gegen den ich mich stemmen muss. Und dann löst sich der Zaun auf. Zwischen uns ist nichts mehr. Sie kriechen auf mich zu. Kriechen wie Gabrielle, als ich sie das letzte Mal gesehen habe.
Meine einzige Hoffnung ist, dass ihre Kraft verbraucht ist, ehe sie mich erreichen. Aber ich fühle sie an meinen Beinen, sie ziehen mich runter. Ich bin umzingelt, werde zerdrückt. Bekomme keine Luft mehr.
Ihre Hände bohren sich in mich hinein. Es ist so, als wollten sie alle auf einmal in mich hineinkriechen.
Ich kann sie nicht zurückhalten und sie kommen und kommen und kommen, bis ich unter ihnen ertrinke.
36
D as Rauschen des Windes in den Bäumen weckt mich. Ich liege auf dem Rücken, um meine Zehen wirbelt das Wasser. Die Erde fühlt sich anders an. Nass, weich, glatt.
Ich will die Augen aufmachen, aber die grelle Sonne blendet mich und rammt mir Dolche tief in den Schädel. Auch der Rest meines Körpers schreit vor Schmerz und ich stöhne leise.
Eine Weile liege ich einfach da. Atme, erinnere mich an meinen Traum und lasse das Schuldgefühl über mich hinwegspülen. Ich habe Jed verloren. Ich möchte mich zusammenrollen, mir die Haare raufen. Aber mein Körper schmerzt zu sehr, und deshalb lasse ich mir vom Wasser die Füße kitzeln, die Wangen von der Sonne wärmen und den pochenden Schmerz in meinen Gliedern verebben. Die Luft, die durch die Bäume weht, ist beruhigend, tröstlich, und beinahe sinke ich zurück ins Nichts, dankbar dafür, den Wald und Jed und die Hoffnung, die Ungeweihten und meinen Traum vergessen zu dürfen.
Jemand gräbt, die Geräusche driften heran. Ein Spaten
sticht durchs Wurzelwerk, wird in der weichen Erde versenkt und wieder herausgezogen.
Das ist ein vertrautes Geräusch und ich muss lächeln. Erntezeit. Zeit, die Sonne und den Sommer zu feiern. Das Geräusch kommt näher und fällt ein in den Rhythmus des Windes in den Bäumen – wie ein Schlaflied ist das.
Ein Schatten schiebt sich über mein Gesicht, ich schlage die Augen gerade noch rechtzeitig auf, um einen Mann mit einem Spaten in der Hand über mir zu sehen. Er hebt ihn über den Kopf.
Instinktiv wälze ich mich auf die rechte Seite. Der Spaten verfehlt mich und bohrt sich in den Sand, wo eben noch mein Hals gelegen hat.
Der Mann ist dabei etwas aus dem Gleichgewicht geraten, sein Spaten steckt tief im Sand.
Ich richte mich auf, und als er am Schaft rüttelt, hebe ich die Hände. »Warte, warte!«, brülle ich, und er hält inne. Er löst seinen Griff und schaut mich verblüfft und neugierig an.
»Du …« Er zögert. »Du bist nicht tot«, sagt er schließlich.
»Wäre ich, wenn es nach dir gegangen wäre.« Ich behalte die Hände oben und rutsche ein Stück von ihm weg.
Irgendwas hinter ihm fällt mir ins Auge – eine Ungeweihte mit strähnigem Haar will sich auf ihn stürzen. »Pass auf!«, schreie ich. Er dreht sich um und enthauptet sie mit einem geübten Schlag. Langsam sinkt sie zu Boden.
Wieder richtet er den Blick auf mich, er spricht, aber seine Worte dringen nicht zu mir durch. Plötzlich wird mir ganz schwindelig, denn nun nehme ich die Welt um mich herum wahr und die Weite des Wassers, das sich ins Endlose erstreckt.
»Das Meer«, flüstere ich. Und dann steht die vergangene Nacht wieder lebhaft vor mir. »Jed«, keuche ich.
Ich stehe auf, schwanke und renne dann den Strand entlang, wo ich mir die angespülten Körper genau anschaue. Die meisten Köpfe sind abgetrennt worden, zweifellos das Werk des Mannes, der mir nachruft.
»Was suchst du?«, brüllt er.
»Meinen Bruder!«, rufe ich. »Er war bei mir und jetzt …«
Hunderte von Ungeweihten liegen am Strand herum, und ich bin dabei, jeden einzelnen von ihnen umzudrehen und mir sein Gesicht anzusehen, als der Mann mich einholt und mich wegzieht.
»He«, sagt er. »Pass auf, was du da
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