The Walk: Durch eine zerstörte Stadt (German Edition)
starrte, konnte er erkennen, dass sie blutgetränkt war und dass dort, wo der Wagen sie einquetschte, noch mehr Blut durchsickerte.
»Ist da noch jemand bei Ihnen?«, fragte er.
»Nein, Gott sei Dank nicht.« Sie leckte sich das Blut von den Lippen und schaute mit flehendem Blick zu ihm auf. »Können Sie mich hier rausholen?«
Das Metall hatte sich derart um ihren Körper gewickelt, dass keine Chance bestand, irgendetwas für sie zu tun, nicht mit bloßen Händen und einem winzigen Montiereisen. Hier mussten ein Feuerwehrteam, schweres Rettungsgerät und einige Sanitäter ran. Und selbst dann hatte er seine Zweifel.
»Ich denke nicht«, antwortete er. »Außerdem habe ich Angst davor, was passieren könnte, wenn ich es versuchen würde.«
Sie nickte schwach. »In Ordnung. Ich denke, ich wusste die Antwort sowieso schon. Können Sie für den Lastwagenfahrer etwas tun?«
»Ich weiß nicht«, Marty schaute weg, überrascht von einem plötzlichen Schuldgefühl. Als er wieder zu ihr sah, bedachte sie ihn mit einem seltsamen Blick.
»Vielleicht sollten Sie mal nachsehen.«
Die Art, wie sie das sagte, nämlich ganz ohne zu urteilen oder ihn gar zu verachten, ließ den Satz irgendwie noch vernichtender klingen. Er richtete sich langsam auf. Sie griff erneut nach ihm, dieses Mal sanft.
»Sie kommen zurück, oder?«, fragte sie.
»Ja«, sagte er, »natürlich.«
Marty stand auf und ging zu dem Lastwagen. Gerade mal fünfzehn Minuten unterwegs und schon brach er die Regeln. Wenn er schlau wäre, würde er einfach weitergehen. Er konnte nichts für sie tun.
Als er sich dem Lastwagen näherte, behielt er das lose Stromkabel im Blick, das sich zischend und knisternd über das Pflaster schlängelte. Die Benzinpfütze war immer noch weit genug von den Funken entfernt, doch das konnte sich ändern.
Er kletterte an der Fahrerkabine hoch und schaute durch das Fenster auf der Fahrerseite hinein. Zunächst konnte er sich keinen Reim machen auf das, was er sah. Der Fahrer lehnte zusammengesackt an der Beifahrertür, aber sein Kopf lag in seinem Schoß. Wie konnte das sein?
Einen Moment später begriff er. Ein Stück Wellblech, das bei dem Aufprall aus der Wand des Lagerhauses gerissen worden war, war wie eine Axt durch die Windschutzscheibe gefahren und hatte dem Fahrer den Kopf abgehackt.
Marty kletterte so hastig von der Fahrerkabine herab, als wäre Enthauptung ansteckend, und wich zurück, ohne seinen Blick von dem Wrack abzuwenden. Er wartete nur darauf, dass der nächste Schrecken auftauchte.
Als Marty acht Jahre alt war, war er in einen Nagel getreten, der sich komplett durch seinen Fuß gebohrt hatte. Bis heute war das die schlimmste körperliche Verletzung, die er je zu sehen bekommen hatte, Irving Steinberg und Clarissa Blake mal nicht mitgerechnet.
Er stieß rückwärts an den Volvo, der dadurch ins Schaukeln geriet; der Schmerzensschrei der Frau riss ihn aus seinen Gedanken. Die Frau, irgendwie musste er der Frau helfen. Aber wem wollte er etwas vormachen? Er konnte verdammt noch mal überhaupt nichts für sie tun. Das war ein Job für Profis.
Marty angelte in seiner Jacke nach seinem Handy und versuchte, den Notruf zu wählen. Wieder hatte er keinen Empfang. Doch selbst wenn er durchkommen würde, wie standen die Chancen, dass jemand wegen ihr herkommen würde, wo die ganze Stadt in Schutt und Asche lag? Die Frau stand auf der Prioritätenliste ganz unten.
Es gab nur ihn. Und Marty hatte nicht die leiseste Ahnung, was er tun sollte. Er unterdrückte den Impuls wegzulaufen, steckte das Telefon zurück in seine Tasche und kniete sich wieder neben den Wagen.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie, doch sie unterbrach ihn, bevor er antworten konnte. »Schon gut, Ihr Gesicht spricht Bände.«
Sie zitterte stark und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Er hatte noch nie zuvor jemanden gesehen, der solche Schmerzen aushalten musste, und er wollte es auch jetzt nicht sehen. Er schaute weg. Blut tropfte von ihrer Nase und rann aus ihren Mundwinkeln.
»Ich heiße Molly«, flüsterte sie. »Molly Hobart.«
»Marty Slack.« Er nahm ein Papiertaschentuch aus seiner Tasche und wischte ihr das Blut aus dem Gesicht, dann fragte er sich, was er jetzt mit dem Taschentuch machen sollte. Was, wenn sie AIDS hatte? Er ließ das Taschentuch fallen und hoffte, dass nichts von dem Blut mit seinen Händen in Berührung gekommen war. »Kann ich irgendetwas tun, damit es etwas bequemer für Sie wird?«
Er hatte einen Erste-Hilfe-Kasten
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