The Walking Dead: Roman (German Edition)
Nick zum Stehen kommt.
Mittlerweile hat es die junge Frau auf dem Boden geschafft, sich umzudrehen – sie ist noch immer gefesselt und geknebelt. Ihre Tränen rinnen in den feuchten Boden, als ob sie sich danach sehnen würde, dass er sich auftun und sie verschlingen und töten würde, während Nick und Philip keine zwei Meter voneinander entfernt stehen und sich anstarren.
»Was soll das werden? Bist du jetzt der Racheengel oder was?«, fragt Philip seinen langjährigen Freund.
»Vielleicht, Philip, vielleicht.«
»Das hier geht dich nichts an, Nicky.«
Nick zittert vor Emotionen. Er muss wiederholt blinzeln, damit ihm die Tränen nicht die Wangen herunterlaufen. »Es gibt einen besseren Ort für dich und deine Tochter, Philly.«
Philip steht wie versteinert da, und sein eingefallenes Gesicht sieht in dem schwächer werdenden Licht geradezu grotesk aus. »Darf ich annehmen, dass du es sein wirst, der Penny und mich erlöst?«
»Irgendjemand muss diesem Wahnsinn Einhalt gebieten, Philly. Warum nicht ich?« Nick hebt den Lauf weiter, bis Kimme und Korn auf Philip zielen. »Herr, bitte vergib mir …«
»Nick, warte! Bitte, bitte! Hör mir zu!« Brian umkreist Nick und hält dabei seine Achtunddreißiger in die Luft. Er kommt wenige Zentimeter vor Nick zum Stehen, der den Lauf noch immer auf Philips Gesicht gerichtet hat. Brian redet weiter. »Die ganzen Jahre, die ihr in Waynesboro wart, die vielen Male, die ihr zusammen gelacht habt, die ganzen Meilen, die wir gemeinsam hinter uns gebracht haben – zählt das alles nichts mehr? Philip hat uns das Leben gerettet! Die Sache hier ist aus dem Ruder gelaufen, klar. Aber das kriegen wir schon wieder ins Lot. Runter mit der Waffe, Nick. Komm schon, ich flehe dich an.«
Nick beginnt zu zittern, hält die Waffe aber immer noch auf Philip gerichtet. Schweißtropfen treten auf seine Stirn.
Philip tritt einen Schritt auf ihn zu. »Mach dir nichts draus, Brian. Unser Nick hier ist schon immer etwas geschwätzig gewesen. Der hat es einfach nicht in sich, auf jemanden zu schießen, der noch am Leben ist.«
Nick zittert jetzt wie Espenlaub.
Brian sieht den beiden Freunden zu und ist vor Unentschlossenheit wie gelähmt.
Philip greift in aller Ruhe nach der Frau, packt sie am Genick, zieht sie vom Boden hoch wie ein Gepäckstück, dreht sich um und zerrt das sich windende Geschöpf bis an den Rand der Lichtung.
Nicks Stimme ist jetzt tiefer als zuvor. »Herr, sei uns gnädig.«
Plötzlich lädt er die Waffe durch.
Und drückt ab.
Eine Schrotflinte mit einer 12-mm-Bohrung ist ein kompromissloses Instrument. Die tödlichen Schrotkügelchen Kaliber dreiunddreißig können sich über eine kurze Distanz über mehr als dreißig Zentimeter ausbreiten und treffen ihr Ziel mit genügend Wucht, um einen Porenbetonstein in seine Bestandteile explodieren zu lassen.
Das grobe Schrot, das in Philips Rücken dringt, schießt erst durch das Fleisch seines Schulterblatts, ehe er die Bänder seines Genicks zerreißt. Das Schrot hat auch den Kopf der Frau erwischt und sie im Handumdrehen getötet. Die beiden wirbeln in einem purpurnen Nebel durch die Luft.
Sie landen Seite an Seite auf der Lichtung, alle viere von sich gestreckt. Die junge Frau ist bereits tot und bewegt sich nicht mehr, während Philip die letzten quälenden Sekunden von den Zuckungen eines heftigen Todeskampfes heimgesucht wird. Auf seinem Gesicht ist die völlige Überraschung zu sehen, die er empfindet. Er versucht zu atmen, doch sein Gehirn ist bereits dabei, sämtliche Körperfunktionen abzuschalten.
Der Schock über das, was soeben passiert ist, zwingt Nick Parsons in die Knie. Sein Finger ist noch am Abzug, und die Schrotflinte in seiner Hand qualmt von der Hitze der Explosion.
Er kann nichts anderes mehr sehen als das, was er den beiden Menschen vor sich angetan hat. Bestürzt lässt er die Schrotflinte zu Boden fallen, und obwohl sich sein Mund unentwegt bewegt, kommt kein Ton heraus. Was hat er getan? Er spürt, wie sich sein Inneres zusammenzieht – wie eine Samenschote, kalt und verlassen. Das Armageddon-Dröhnen hallt in seinen Ohren wider, die heißen Tränen der Scham fließen jetzt in Strömen über sein Gesicht. Was hat er getan? Was hat er verbrochen? Welche Schuld hat er nur auf sich geladen?
Brian Blake wird zu Eis. Seine Pupillen weiten sich. Der Anblick seines Bruders, der in einem blutigen Haufen auf dem Waldboden neben dem toten Mädchen liegt, brennt sich für immer in sein Gehirn
Weitere Kostenlose Bücher