Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
sich zuweilen darüber, dass sie das alles wusste, dass ihr die gehüteten Geheimnisse der anderen zuflogen wie von selbst, dumme kleine Geheimnisse der Schulmädchen und schwere Geheimnisse, wie sie ihr Schwiegervater hatte, der hinter seinen juristischen Büchern andere Bücher versteckt gehalten hatte, Bücher von Schnitzler und Kraus und Altenberg und Friedell und wie sie alle hießen, und schwerste Geheimnisse, auch solche, die man niemals aussprechen und sich kaum denken durfte, wie das Geheimnis der Lilo, die eines Tages hereingeplatzt war und zuerst herumredete und dann nicht einmal verlegen, sondern eher stolz alles erzählte – alles stürmte auf sie zu, sie wusste nicht, warum, dachte bloß zuweilen, sie sei so etwas wie ein ruhender Punkt. Dieses eine Mal galt der Besuch nicht dem ruhenden Punkt, sondern ihrem Mann, und durch ihn doch auch ihr. Lilo hatte den Besuch angekündigt, noch am gleichen Abend, andem Richard Kranz eingetroffen war; Lilo, in Tücher gehüllt, vermummt, unkenntlich gemacht, flog durch die offene Tür, es war bereits Abend, sie hüpfte aus der Dunkelheit herein in das schwach beleuchtete Vorzimmer. Heinz hat den jungen Kranz mitgebracht, sagte sie atemlos, schob das eine Tuch zur Seite, warf das andere Tuch auf den Sessel. Wer ist da? fragte aus dem Zimmer der alte Mohaupt. Stell dir vor, sagte Lilo, Heinz ist ganz außer sich, das sehe ich ihm an der Nase an, von mir aus kann er den würdigen Herrn spielen, er ist trotzdem außer sich, und nach dem Essen fragte der junge Kranz, was denn mit dem Erich sei, und wir sagten, er hat geheiratet, dich geheiratet, und dann sei er an die Front gegangen, und darauf sagte er gleich, er komme dich besuchen, gleich morgen früh, in der Apotheke, zur Apotheke finde er schon allein, dritte Seitengasse links, gegenüber der Kirche, in der Auslage hatte es Hustenbonbons gegeben, und zwar in gläsernen Behältern.
Sie hatte Lilo angesehen, ohne etwas zu sagen. Sie freute sich über sie und bewunderte sie, dieses dünne blonde Mädchen mit der spitzen Nase, mit den flinken blassen Lippen, mit der hübschen kleinen Figur, dieses aufgeregte Persönchen, das den Apotheker Erich Mohaupt schlicht Erich nannte, obwohl er dreizehn Jahre älter war als dieses Plappermäulchen, ein kleines Weib mit roten Wangen, mit zu roten Wangen, vielleicht lungenkrank, das aussprach, was es dachte, schamlos und dennoch keusch, wie ein hübsches kleines Tier, das nicht Vater sagte, oder Stiefvater oder Heinrich Moravec oder Herr Moravec oder in Gottes Namen nur Moravec, sondern einfach: Heinz. Nicht überall. Hier aber, wo sie ihr schweres Geheimnis losgeworden war, sagte Lilo: Heinz. Vielleicht empfand sie ihr Geheimnis gar nicht als schwer, vielleicht war sie nicht einmal stolz darauf, sondern hielt es für natürlich, dass sie ihre verstorbene Mutter nicht nur im Haushalt, sondern auch im Bett vertrat. Kommen Sie doch herein, rief der alte Mohaupt aus dem Zimmer, und Lilo flog sogleich weiter, aus dem Vorzimmer zum Armstuhl und vom Armstuhl auf das Sofa, und zwischendurch hatte sie dem Alten aus nächster Nähe in die Augen gesehen, ohne ihn auf den kahlen Schädel geküsst zu haben, denn sie hatte längst begriffen, dass Mohaupt nicht geküsst werden wollte. Und da war sie dann gesessen, kreuzhohl, brav, wie in der Kirche, hatte über dies und jenes geredet, und war dann weggegangen in ihren vielen Tüchern, aus dem Licht übergegangen in die Dunkelheit, und ihre Schuhabsätze hatten laut und vergnügt auf die Pflastersteine des Gartenwegs getrommelt.
Sie, die Apothekersfrau, Katharina Mohaupt, dachte ein wenig neidisch und doch eigentlich ohne Neid, sondern verzeihend und bewundernd und beinahe gütig: Ein prächtiges Mädchen. Diesen Edelmut, den eigenen, konnte sie nicht ausstehen. Er machte das Leben schwer, komplizierte alles. Ein Haustier, von dem sie terrorisiert wurde. Sie fühlte sich meistens wohl, auch wenn sie Böses mitansehen musste. Sie war bis zum Überlaufen gefüllt von Gesundheit. Nur mit dieser Güte konnte sie nicht fertig werden, die stach wie der Hafer im Hintern.
Sie hatte also gewusst, dass er kommen würde, um die Frau seines besten Freundes zu besuchen, aber als er dann wirklichgekommen war, hatte sie ihm nichts Besseres anbieten können als ein verständnisvolles, allzu verständnisvolles Schweigen, das ihn zwar gewiss wohlig umhüllte, aber auch isolierte. Haben Sie Nachricht von Erich? Nein. Hat er noch Tennis gespielt? Ja, beim
Weitere Kostenlose Bücher