Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
ausgehungert, nichts als Haut und Knochen. Er musste gepflegt werden, um vergessen zu können, gefüttert werden mit leichten Speisen, verwöhnt werden, wie er als Knabe verwöhnt worden war, Richard Kranz brauchte seine Mutter, oder er brauchte eine Frau, die ihm auch Mutter sein würde, denn er war, obwohl scheinbar gut bei Kräften, eigentlich moribund. Er ging arglos umher, und in Wirklichkeit lag er im Sterben. Sie sah ihm den Tod an, der in seinen Augen lag, die nun nicht mehr so verschleiert waren, nicht mehr ohne eigenes Licht, wie damals, sondern leuchtend, allzu lebendig; sie sah das Sterben, sein Sterben, in der Gier, mit der er sich den Schnaps in den Hals goss. Nachdem er das fünfte Gläschen ausgetrunken hatte, sagte er: Ich werde nicht gleich weiterfahren. Wissen Sie, was ich machen werde? Ich werde Fräulein Moravec den Hof machen. Und nach dem achten Gläschen sagte er: Ich werde ihr den Hof machen, erstens, weil der Ausdruck so schön ist, den Hof machen, und zweitens, weil ich fünf Jahre lang jeden Tag hätte sterben können, hätte nach dem Willen der Behörden sterben müssen, und drittens, weil für mich Thennberg – Er trank. Dann sprach er lange nichts mehr.
Dann ging er. Darf ich wiederkommen? fragte er noch. Sie nickte.
Nachdem er gegangen war, spülte sie sich den Mund aus. Dann mischte sie das Pulver für die alte Frau. Nachher schloss sie die Apotheke und ging auf den Friedhof, zum Grab ihres Vaters. Dieses Grab besuchte sie ziemlich oft. Sie zündete in der schmiedeeisernen Laterne einen Kerzenstumpf an, betete, fuhr mit einem Ast über die Erdschollen, in die sie bei wärmerem Wetter wieder Samenkörner stecken wollte, und bemerkte erst auf dem Heimweg, dass sie nicht für das Seelenheil ihres Vaters gebetet hatte, sondern für das Seelenheil des Richard Kranz.
I
mmerlustig, immer froh, das Schlimmste, das einem passieren kann, ist der Tod, und so ganz und gar grässlich ist der auch nicht, aber bis zum Tod ist es noch eine Strecke; wenn alles schief geht, bleiben immer noch der Bach und der Stein und der Fisch, und so weit ist es noch lange nicht gekommen, so weit kommt es vielleicht nie, fünf Schnäpse können einem Richard Kranz nichts antun, überhaupt nichts, er hatte lange genug Wassersuppe gegessen zum Frühstück, zum Mittagstisch, zum Abendbrot, Wassersuppe mit Bakterienzüchtungen von den Nazis, dann Schmalzbrote und Schnaps von den Russen, zehn Schnäpse werden einem Richard Kranz nichts antun können, zehn graue Schnäpse in einer grauen Apotheke, Bilder von Schnapsgläschen in dem Bild einer Apotheke; ich, Anna Csillag, ja, sie persönlich, Anna Csillag mit ihrem 185 Zentimeter langen Riesen-Loreley-Haar, war hinter dem Ladentisch gestanden und hatte Schnurrbartwichse verkauft aus einer an die Wand gemalten Schachtel, und neben Anna Csillag war Katherina Mohaupt gestanden, ebenfalls an die Mauer gemalt mit Farben aus Wachs; immer lustig, immer froh, im Schloss wohnte, wie hieß er nur, ja, er hieß Joachim Schwarzer und war aus Konstanz hergereist, jetzt aber war er weg, im Schloss wohnte niemand, höchstens die Mutter kehrte ab und zu zurück, um hinter den geschlossenen Türen des Kleiderschranks ein wenig zu knarren, vorausgesetzt, dieser Schrank existierte noch, und Vater ging auf und ab, auf dem Dachboden, im kleinen Appartement von Tante Paula, und schlug zuweilen, wenn es ihm gerade einfiel, Pirouetten, eine nach links und eine nach rechts und dannwieder eine nach links – Kommen Sie, Fräulein Moravec, gehen wir die Eltern besuchen.
Diese Kälte in Ihren Knochen ist gar keine echte Kälte, auch ich kann sie fühlen, das ist bloß der Schnaps, er ist etwas kühl, er ist ja auch grau gewesen, man hatte ihm die Kälte gleich ansehen können. Es kann nicht kalt sein, die Sonne scheint, vor einer Stunde oder höchstens vor zwei Stunden hat Hochwürden Horowitz die Glocke läuten lassen. Frühling ist, Nachmittag, Blümchen blühen, hören Sie, Fräulein Moravec, es klappert die Mühle am rauschenden Bach, klipp-klapp, wenn es kalt wäre, könnte sie nicht klappern, der Bach wäre zugefroren.
Zugefroren habe ich ihn niemals gesehen, und die Wiesen waren sommerlich grün gewesen und dann, gegen Ende der Ferien, gelblich, ewig grün und gelblich, die Platanen immer belaubt, es ist mir nie eingefallen, dass es in Thennberg auch einen Winter gab, und ich weiß nicht, wie dann die Menschen herumgehen – tragen sie lange Mäntel oder Schafpelze, Bundschuhe oder
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