Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Ich habe es hier immer schön gehabt, in Thennberg, ich habe mich als Kinddas ganze Jahr darauf gefreut, im Sommer endlich in Thennberg zu sein, spazierenzugehen, mit Erich Tennis zu spielen, ich bin hier, in Thennberg sogar verliebt gewesen, ich war damals vierzehn, und es war ein Geheimnis. Niemand hat es gewusst, dass ich verliebt war, nicht einmal sie selbst, ich möchte den Namen nicht nennen, ich habe nach ihr gefragt, und Herr Moravec sagte, sie sei gestorben. Im Lager, ich meine, hier, im letzten Kazet, habe ich manchmal gedacht: Wie seltsam, Thennberg muss ja hier irgendwo in der Nähe liegen, ich könnte einfach hinspazieren, ja, und jetzt bin ich tatsächlich da. Ist das nicht komisch? Er sprach leise und langsam, als müsste er die Worte mühevoll zusammensuchen, oder als wollte er es genießen, dieses zwanglose, ziellose Dahinreden vor der Frau seines Freundes. Und dann fragte er wieder: Also sagen Sie mir, warum soll ich gleich wegfahren?
Wie eine kleine Kugel aus Blei lag ihr die Antwort im Schädel, sie tat weh, sie wollte hinaus, warum auch nicht, irgendeinmal musste er es ja erfahren. Sie sah ihn an. Er war sehr mager, sein Gesicht war gelblich; vielleicht war er krank. Sie fühlte, dass ihre gefährliche Schwäche, diese entsetzliche Weichheit wieder emporgestiegen war aus der Magengegend, die vor Erregung bebte. Der Anfall von Güte breitete sich aus in ihrem Körper. Sie beherrschte sich, gab nicht nach. Sie konnte nicht erzählen, dass sie alles wusste, dass die Liebschaft zwischen Helene Wallach und dem jungen Kranz allen bekannt war, sie brachte es nicht über sich, ihm zu verraten, dass Heinrich Moravec die Helene geheiratet und dann, nach dem Tod der Helene, mit Lilo ein Verhältnis angefangen hatte; es war besser, wenn Richard Kranz das alles nicht wusste, sondern wegfuhr, so rasch wie nur möglich. War es wirklich besser? War es wirklich Mitgefühl und Güte, die ihr die Kehle zuschnürten, oder war es ein unausgesprochenes Gesetz der Solidarität mit allen anderen Leuten hier, die alles wussten und nichts aussprachen, war es die Kumpanei einer natürlichen Verschwörung? Sie schwieg. Dann sagte sie: Ich dachte, Sie wollen sehen, ob Ihre Eltern – sie konnte das Wort „gestorben“ nicht aussprechen, und um nichts weiter sagen zu müssen, schenkte sie die Gläschen wieder voll.
Er nahm das seine gleich, mit einer einzigen hastigen Bewegung führte er es an den Mund, trank, stellte es wieder hin auf die blanke Glasscheibe des Ladentisches, dann sah er sie an. Er grinste. Er sagte: Das ist ja nicht so wichtig, aber meine Eltern leben nicht mehr. Er hatte die Worte mühevoll formen müssen, denn seine Lippen blieben, während er den Satz aussprach, in die Breite gezogen, im Grinsen erstarrt. Sie sagte: Das tut mir aber leid. Aber während sie das aussprach, fühlte sie, wie idiotisch das war, wie mechanisch, wie hohl, und also fügte sie hinzu: Ich habe Ihre Frau Mama sehr bewundert, ich meine, als ich noch ein kleines Kind war. Er nickte und schob ihr das leere Schnapsgläschen zu, das sie ein drittes Mal füllte, und um nicht unhöflich zu sein, füllte sie gleich auch das ihre. Er trank. Dann sagte er: Sie sind bestimmt jünger als ich, aber um ein paar Jahre älter als Fräulein Moravec; ich bin zweiundzwanzig und Erich muss dann sechsundzwanzig sein, und Sie, lassen Sie mich raten, zwanzig? Sie nickte, obwohl sie ebenfalls zweiundzwanzig war, aber sie wollte ihm nicht widersprechen, und außerdem sah er wirklich viel älter aus als sie; mit achtzehn Jahren hatte sie Erich Mohaupt geheiratet, und bald darauf war er eingerückt, und sie hatte das Gefühl, sich seither nicht verändert zu haben, aber Richard Kranz, der nun wieder nach dem Schnapsglas griff, etwas hilflos zurückgelehnt auf dem weiß angestrichenen Sessel, müde oder bereits ein wenig betrunken, Richard Kranz war nicht mehr jung, er sah aus wie um die dreißig. Sie nickte immer noch, und während sie nickte, dachte sie, Lilo habe ihn während dieses einen Tages verrückt gemacht, ohne es zu wollen, aus Spiel, aus Koketterie – denn sie war ganz und gar ehrlich, diese Lilo, ohne Hintergedanken, und gerade deshalb konnte sie nichts dafür, dass etwas in ihr immerzu kokettierte: mit den Töpfen, in denen sie rührte, und mit den Wolken, denen sie nachblickte, und natürlich auch mit den Männern – und dabei war Richard Kranz nicht mehr jener melancholische Knabe mit dem fetten Hintern, sondern ein magerer Mann,
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