Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Schreckens manche der Personen wieder, die er aus früheren Tagen kennt. Darunter ist auch die Tochter seiner früheren Geliebten, die nach dem Tod ihrer Mutter mit dem Stiefvater in einer Intimbeziehung lebt. Dieses Verhältnis wird – nie wird es so klar angesprochen, dass man es ohne weiteres als „Inzest“ oder „Missbrauch einer Minderjährigen“ bezeichnen könnte – dadurch verändert, dass Richard Kranz mit ihr eine Liebschaft beginnt. Das Mädchen wird charakterisiert als „[…] ein kleines Weib mit roten Wangen, mit zu roten Wangen, vielleicht lungenkrank, das aussprach, was es dachte, schamlos und dennoch keusch, wie ein hübsches kleines Tier […]“ (35). Kurz nach Beginn ihres Verhältnisses mit Richard Kranz wird das Mädchen tot im Wald aufgefunden. Tatverdächtige können nicht ausgeforscht werden. Man bemüht sich auch nicht ernsthaft darum, obwohl es Verdachtsmomente gibt. Durch den er- bzw. durchlebten Schrecken ist die Gesellschaft müde und die moralischen Maßstäbe sind morsch geworden. Im Roman steht: „[…] im Wald konnte einem alles mögliche passieren. Im Wald war die Leiche des Gastwirts Stranzl gelegen, erst vor drei Wochen, er war ausgeraubt worden und zusammengeschlagen und dann erdrosselt, im Wald war ein toter Mann gelegen, den niemand kannte, er war erschlagen worden mit einer Axt, im Wald war erst vor drei Tagen die närrische Gretl Vieböck gelegen, diese Idiotin, vergewaltigt, erschossen, im Wald streunten Männer herum, Kazetler auf dem Heimweg, Fremdarbeiter, russisches Militär, Nazis auf der Flucht, Soldaten in Uniform und Deserteurein gestohlenen Schuhen und Mänteln, im Wald wurde wahllos gemordet, da zählte es nicht mehr, ob irgendwo im Gestrüpp noch eine vierte Leiche lag oder eine fünfte.“ (72) Doch der Wald ist nur ein Sinnbild für die Gemeinschaft der Menschen, der die Maßstäbe abhanden gekommen sind, sofern vor der Zeit des Schreckensregimes überhaupt solche vorhanden waren. Die von Sebestyén verwendeten Begrifflichkeiten lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Geruch des Gehorchens“, „Gestank des Sterbens“ (126).
Eine Reihe von Bemerkungen deuten darauf hin, dass Fragen der Ethik und der Moral keine wesentliche Rolle spielen: „Reich können nur Leute werden, denen Gefühle, reine Gefühle nichts anderes bedeuten als einen entbehrlichen Luxus“ (27) heißt es an einer Stelle und an anderer: „[…] die Herren Mörder kaufen sich Schlösser und Gott bestraft sie nicht, Gott wird sie niemals bestrafen, nicht im Diesseits und nicht im Jenseits, Gott liebt zwar die Tauschgeschäfte, aber von den Mördern wendet er sich ab, er hält sie der Strafe nicht für würdig.“ (97) Diese beiden Bemerkungen, die durch nahezu siebzig Seiten von einander getrennt im Roman stehen, stellen, gemeinsam betrachtet, einen ungeheuerlichen Befund dar: Der irdischen Gefühlskälte entspricht der Verzicht Gottes auf ein Gericht. Der biblische Satz „Mein ist die Rache“, der letztlich nichts anderes meint, als dass Gott für die entsprechende Bestrafung selbst sorgen wird, ist aufgehoben. Nicht einmal ein noch so kleines Trostpflästerchen einer ausgleichenden Gerechtigkeit wird den Menschen in Thennberg gewährt. Das ist Heimatlosigkeit pur.
Dennochist der Roman Thennberg oder Versuch einer Heimkehr kein pessimistischer, sondern ein Aufruf an den Leser, sein eigenes Schicksal selbst entschieden in die Hand zu nehmen, was nach der Konzeption von György Sebestyén nur leben bedeuten kann:
„Es bleibt uns nichts anderes übrig als zu leben. Leben heißt vor allem: zu unterscheiden. Zu unterscheiden erstens zwischen den Interessen der eigenen Person und dem Sinn der eigenen Person.
Die Interessen führen nach außen, verführen, lassen uns aufgehen in der Welt, lösen uns auf, löschen uns aus. Unsere Interessen werden mit der Zeit mächtiger als wir sind. Sie werden zu fixen Ideen, denen wir folgen, obwohl sie sogar unserem Egoismus längst nicht mehr entsprechen. Je treuer wir an unseren Interessen hängen, umso leichtfertiger geben wir uns selbst preis.“ (57)
„Den Sinn der eigenen Person“ zu erkennen, ihm auf die Spur zu kommen, ist die Aufgabe, die auf jeden Einzelnen wartet und die von jedem selbst so lange geschultert werden muss, so lange „man die Füße bewegen kann.“ Da die Frage nach dem Warum eine vergebliche ist, gilt es im Hier und Jetzt, weil man ein Mensch ist, der mit der Fähigkeit zur Selbstreflexion ausgestattet
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