Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
dauern fünf Tage, wer will das im Voraus wissen? Und ist es dem Mädchen nicht besser, da zu bleiben, wo sie geboren ist? Wer darf sie wegnehmen aus ihrem Dorf und hinaustragen in die Welt? Und gerade du darfst es? Warum gerade du? Nur, weil du sie liebst? Aber wen liebst du denn, liebst du wirklich das Mädchen, oder liebst du nur dich selber? Und wenn du dich selber lieben darfst, darf dann der Vater nicht auch sich selber lieben? Willst du Gerechtigkeit? Markus Löw lächelte wieder, und die Stimme klang nun noch leiser und noch fröhlicher. Ich sage dir ein Geheimnis, sagte die Stimme, es gibt keine Gerechtigkeit.
Aber die Liebe, die gibt es, sagte Richard Kranz.
Wenn du alles besser weißt, sagte die Stimme immer fröhlicher und immer leiser, dann könntest du ja auf der Stelle tot umfallen, dann hättest du ja gleich für das Mädchen sterben können, denn wer nichts mehr dazulernen kann, wozu lebt der noch überhaupt? Aber du weißt ja gar nicht alles besser, du weißt überhaupt nichts, du bist hierher gekommen ins Dorf, wo du gewesen bist als kleiner Junge, ein feines Kind, und bist jetzt kein feines Kind mehr, sondern jemand, der kommt und sich einquartieren lässt in einem Haus, das nicht sein eigenes Haus ist, und sich einlässt mit einem Mädchen, das nicht für ihn da ist, und schon muss das Mädchen sterben, nur weil du nicht weißt, wie die Menschen sind und wie das Leben ist, denn zuerst bist du ein verwöhntes Kind gewesen, und dann bist du im Kazet gewesen, und immer hat man aufgepasst, dass du nicht erfahren sollst, wie die anderen Menschen sind und wie du selbst bist, und welches Unheil du stiften kannst, wenn du Gutes tust oder Schlechtes. Du weißt ja nicht, was du tust, und niemand weiß, was er tut, der eine tut das Böse und es wird daraus Gutes, und der andere tut das Gute und es wird daraus Böses. Und da das so ist, soll man sich nicht einmischen, warum musst du dich einmischen? Wenn du ein anständiger Mensch bleiben willst, dann sollst du nicht leben ganz, sondern nur leben halb, damit nur die eine Hälfte schmutzig wird und die andere Hälfte rein bleibt. Ich sage dir jetzt noch ein Geheimnis, sagte die Stimme kaum hörbar und so vergnügt, als wäre sie dabei, einen Witz mitzuteilen und die gute, die allzu gute Pointe vor lauter Lustigkeit vorzeitig zu zerlachen. Man soll leben, prustete leise die Stimme, als wäre man bereits gestorben.
Wozu lebt man dann? fragte Richard Kranz.
Woher soll ich das wissen? antwortete die Stimme. Braucht man denn darüber nachzudenken? Gott hat es so gewollt.
Aber warum? fragte Richard Kranz.
Willst du vielleicht wissen, was der liebe Gott sich dabei gedacht hat? flüsterte die Stimme. Wenn er denkt, sagter’s nicht, und wenn er nicht denkt, dann kann er’s auch nicht sagen. Lass den lieben Gott, ich bin vorbeigekommen, um dich abzuholen, und jetzt halt uns nicht länger auf.
Richard Kranz wollte sagen, dass er nicht gehen wolle, bevor er – ja, bevor was? Und Worte wie Mord und wie Liebe verwandelten sich in eine einzige Bewegung: Er hob ein wenig die Schultern und breitete die Arme aus, die beiden Handteller hingen steif, offen, ratlos in der Luft.
Bist du der heilige Georg? fragte und antwortete die Stimme, und es war nun wieder die Stimme des Markus Löw. Lieben kannst du sie ja auch morgen und übermorgen, sagte er quietschend leise, und nur weil sie getötet wurde, was regst du dich so auf? Umgebracht wurden viele, und niemand wird ihnen wieder Leben einblasen und niemand wird sie rächen und alle wird man vergessen. Reg dich nicht auf, wenn Gott sich nicht aufregt, er hat ja gesagt, du sollst nicht töten, und wenn die Leute töten, was tut er? Nichts tut er. Komm.
Ich bin kein Jude, sagte Richard Kranz, und vielleicht sprach wieder einmal ein anderer aus seinem Mund, er wusste es nicht genau, ich bin kein Jude, sagte er, ich glaube an das ewige Leben und dass der Mörder in die Hölle kommt und Lilo in den Himmel, ich werde sie wiedersehen, das kann ja nicht sein, dass ich sie nie mehr sehe.
Und wenn du sie wieder siehst? fragte Markus Löw. Und wenn der Mörder wirklich in die Hölle kommt? Was hast du davon? Komm, halt uns nicht länger auf, pack deine Sachen.
Ichhabe keine Sachen, sagte Richard Kranz. Er ging Markus Löw nach, ging in die Küche, sah Heinrich Moravec am Tisch sitzen, gab ihm wie zufällig, wie im Traum, automatisch die Hand, sagte Danke, er hatte die Hand nicht reichen wollen und nichts sagen wollen, aber jetzt
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