Theo Boone und das verschwundene Mädchen: Band 2 (German Edition)
weggelaufen? Was war mit ihrer komischen Mutter? Wo war ihr Vater? Diese Fragen und viele andere waren im Laufe des Tages aufgeworfen und eingehend diskutiert worden. Jetzt, nach Jack Leepers Festnahme und seinen unerträglichen Worten über April, herrschten bei Schülern und Lehrern Fassungslosigkeit und Angst.
Madame Monique hatte Verständnis. Aprils Mädchenklasse hatte ebenfalls bei ihr Unterricht, in der vierten Stunde. Sie versuchte, die Jungen in eine halbherzige Diskussion über mexikanisches Essen zu verwickeln, aber sie konnten sich einfach nicht konzentrieren.
In der zweiten Stunde wurde die gesamte achte Jahrgangsstufe zu einer Versammlung in die Aula gerufen. Fünf Mädchenklassen, fünf Jungenklassen und die entsprechenden Lehrer. An der Middleschool lief im mittlerweile dritten Jahr ein Versuch, bei dem die Geschlechter im Fachunterricht getrennt waren, die restlichen Aktivitäten jedoch gemeinsam besuchten. Bisher fielen die Bewertungen positiv aus. Allerdings knisterte es ordentlich, wenn sich Jungen und Mädchen dann beim Mittagessen, in der Frühstückspause, beim Sport oder bei Schulversammlungen begegneten, und es dauerte immer ein paar Minuten, bis sich alle beruhigt hatten. Heute war das anders. Die Stimmung war gedrückt. Keine Spur von dem üblichen Posieren und Flirten, den bedeutungsvollen Blicken und dem nervösen Geschnatter. Die Jugendlichen nahmen in aller Stille mit düsterer Miene ihre Plätze ein.
Mrs. Gladwell, die Schulleiterin, redete eine ganze Weile auf sie ein, um sie davon zu überzeugen, dass es April gut ging. Die Polizei sei zuversichtlich, April würde sicherlich bald gefunden werden und wieder zur Schule kommen. Die Stimme der Direktorin klang tröstlich, ihre Worte waren beruhigend, und die Achtklässler wollten sich gern Mut machen lassen. Dann dröhnte ein niedrig fliegender Hubschrauber über der Schule, und sofort waren die Gedanken wieder bei der verzweifelten Suche nach ihrer Mitschülerin. Einige Mädchen rieben sich die Augen.
Später, als Theo und seine Freunde nach dem Mittagessen halbherzig Frisbee spielten, donnerte ein weiterer Hubschrauber über die Schule, der es offenbar eilig hatte. Der Kennzeichnung nach war es irgendeine Polizeitruppe. Das Spiel war vergessen, die Jungen starrten zum Himmel, bis der Helikopter verschwunden war. Dann läutete die Glocke, die Mittagspause war zu Ende, und die Jungen gingen wortlos zum Unterricht zurück.
Während des Schultags gab es immer wieder Momente, in denen es Theo und seinen Freunden gelang, den Gedanken an April zumindest vorübergehend zu verdrängen. Aber diese seltenen Augenblicke– und sie waren wirklich selten– fanden unweigerlich ein Ende, wenn über Strattenburg wieder ein Hubschrauber auftauchte, der über der Stadt lauerte wie ein überdimensionales, angriffslustiges Insekt.
Die gesamte Stadt war aufs Äußerste angespannt. Jeden Augenblick schien eine Hiobsbotschaft erwartet zu werden. In den Cafés, Läden und Büros der Innenstadt tauschten sich Angestellte und Kunden mit gedämpfter Stimme über die neuesten Gerüchte aus. Im Gericht, immer eine fruchtbare Quelle für Klatsch, drängten sich Justizangestellte und Juristen um Kaffeeautomaten und Wasserspender und erzählten sich die neuesten Nachrichten. Die lokalen Fernsehsender brachten alle halbe Stunde aktuelle Live-Berichte. Diese hektischen Updates brachten kaum Neues. Normalerweise erzählte irgendein Reporter mit dem Fluss im Rücken ungefähr das, was er schon beim letzten Mal gesagt hatte.
An der Strattenburg Middleschool arbeiteten sich die Achtklässler still durch ihren täglichen Stundenplan. Die meisten wollten nur nach Hause.
Jack Leeper, der mittlerweile in einem orangefarbenen Overall steckte, auf dessen Vorder- und Rückseite in schwarzen Druckbuchstaben die Worte »City Jail«– Städtisches Gefängnis– prangten, wurde in einen Verhörraum im Keller des Polizeipräsidiums von Strattenburg geführt. In der Mitte des Zimmers standen ein kleiner Tisch und ein Klappstuhl für den Beschuldigten. Auf der anderen Seite des Tischs hatten die Detectives Slater und Capshaw Platz genommen. Die uniformierten Beamten, die Leeper hereinbrachten, nahmen ihm Hand- und Fußfesseln ab und bezogen dann ihre Positionen an der Tür. Sie blieben sicherheitshalber im Raum, obwohl sie nicht wirklich gebraucht wurden. Slater und Capshaw konnten gut auf sich selbst aufpassen.
»Setzen Sie sich, Mr. Leeper«, sagte Detective Slater und
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