Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Schwierigkeitsgrad mit dem für die richtigen Antworten ausgesetzten Preisgeld steigt. Im Gegensatz zur herrschenden Ideologie der Vernetzung wird in dieser Show einzig nach einem punktuellen Wissen gefragt. Die aus Multiple-choice-Verfahren bekannten vorgegebenen Antworten, aus denen eine auszuwählen ist, ermöglichen nicht nur eine rasche und unmittelbare Reaktion, sondern zeigen auch in nuce, wo die Grenzen zwischen Raten, Vermuten, Wissen und Bildung verlaufen. Dort, wo Kandidaten ihre Wahl mit Formeln wie »Das kommt mir bekannt vor« oder »Davon habe ich schon einmal gehört« begründen, triumphiert das Bekannte über das Gewußte, dort, wo mit Wahrscheinlichem oder Plausibilitäten gearbeitet wird, regieren Ahnungen und dunkle Erinnerungen, und wenn jemand tatsächlich etwas weiß, wird als Begründung für die Wahl der Antwort dann auch folgerichtig gesagt: Das weiß ich. Ein Hauch von Bildung schleicht sich schließlich dann ein, wenn es einem Kandidaten gelingt, aufgrund seiner Kenntnisse etwa des Lateinischen oder gar Griechischen die Bedeutung von ihm an sich nicht geläufigen Fachausdrücken zu erschließen.
Die Show, und das mag ihre Attraktivität mitbedingen, simuliert so Bewegungen im Wissensraum, die jeder kennt und nachvollziehen kann: Nur sehr wenig haben wir verstanden, einiges wissen wir, manches kann vermutet werden, das meiste ist uns aber nicht geläufig und kann höchstens erraten werden.
So, wie sich das Wissen in der Abfolge von Fragen aus den unterschiedlichsten Gegenstandsbereichen präsentiert, erscheint es allerdings völlig zusammenhanglos und zufällig. Von der Geographie zur Popkultur, von der Literatur zur Botanik, von der Chemie zur Filmmusik, von der Kochkunst zur Oper, vom Sprichwort zur Historie: Alles ist möglich. Die Kontingenz ist das einzige Prinzip, das die Fülle der Informationen und Bedeutungen, die in einer Show in rascher Folge abgefragt werden, zusammenhält, der Zufallsgenerator spielt eine entscheidende Rolle, Menschenwerk ist offensichtlich nur die Einschätzung des Schwierigkeitsgrades, den man den Fragen zuweist.
Solche Kontingenz allerdings spiegelt eine zentrale Erfahrung wider, die Menschen in der Informationsgesellschaft machen müssen: die Gleichgültigkeit des gleich Gültigen. Auch wer im digitalen Datenozean nach Informationen fischt, wird auf Anhieb nie wissen, ob das, was die Suchmaschine ausspeit, in einem sinnvollen Zusammenhang zu einer Frage steht. Recherchen im Internet zeitigen in einem ersten Schritt immer zufallsbedingte Ergebnisse, die akzeptiert werden, weil jede andere Form der Suche vorab zum Scheitern verurteilt wäre. Sich im Netz zu bewegen, bedeutet immer auch, den Zufall so weit zu verdichten, daß sich Ergebnisse mit Plausibilitätscharakter ergeben.
Ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Millionenshow liegt aber wohl darin, daß dieses Format mit jedem Bildungsdünkel radikal Schluß macht. Gleichberechtigt stehen alle möglichen Wissensgebiete und Lebensbereiche nebeneinander, die Frage nach einer Figur aus Goethes Faust hat denselben Stellenwert wie die nach der neuesten Liaison eines Hollywood-Sternchens, es kann und darf keine Hierarchien geben, und es fiele auch keinem Kandidaten ein, eine Frage mit dem Hinweis zurückzuweisen, daß man das nicht wissen muß.
Was von der einstens geforderten, später inkriminierten Allgemeinbildung übrig ist, läßt sich an dieser Show ablesen: Alles kann Bildung sein, aber Bildung ist längst nicht mehr alles. Es gibt keine bevorzugten Disziplinen und Wissensgebiete mehr, nirgendwo wird ein Kanon abgefragt, aber auch Spezialisten haben in diesem Spiel keine Chance, in der Regel gelangen Generalisten mit etwas Glück am weitesten. Der zunehmende Schwierigkeitsgrad der Fragen orientiert sich dann auch nicht an komplexer werdenden Sachverhalten, auch nicht an dem, was man früher ein gehobenes Bildungsniveau genannt hatte, sondern am Exotismus und an der Ausgefallenheit der Bereiche und Begriffe.
Die Wissensshow suggeriert im Gegensatz zum Bildungs-Buch von Dietrich Schwanitz gerade nicht, daß es um das geht, was man wissen muß, sondern daß es völlig gleichgültig ist, was man weiß oder nicht weiß, mit etwas Glück weiß man immer etwas, das zufällig auch gefragt wird. Auf eine seltsame Weise adoriert diese Show so die Idee des punktuellen Faktenwissens an sich und stellt sich quer zur lange vorherrschenden pädagogischen Reformhaltung, die Faktenwissen als isoliert und
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