Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Frage nicht zu beantworten wüßte; das Problem besteht darin, daß zu einem Buch wie Spinozas Ethik unter dem Gesichtspunkt medialer Enthusiasmierung keine andere Frage mehr gedacht werden kann als die nach ihrem Autor. Was in Adornos Theorie der Halbbildung noch als ein vergeblicher Aneignungsprozeß von Bildung durch solche soziale Schichten, denen schlicht die materiellen Möglichkeiten dazu vorenthalten wurden, kritisch diagnostiziert wurde, mutiert in der Mediengesellschaft zu einem individuellen Glück, das einen rechtzeitig daran erinnert, wer ein bestimmtes Buch vielleicht geschrieben haben könnte.
Wissen wird so zu einem zwar nicht zentralen, aber auch nicht nur peripheren Moment der Unterhaltungsindustrie. Jenseits der diversen Ratespiele, bei denen es auch um Wissen geht, demonstrieren vielleicht die Wissens- und Wissenschaftsmagazine der verschiedenen Fernsehanstalten am deutlichsten, in welchen Formaten Wissen heute einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert werden kann. Auch wenn der Seriositätsgrad vom Sendungen wie Galileo, Newton oder Nano durchaus unterschiedlich bewertet werden kann, läßt sich doch eine Maxime erkennen, die allen zugrunde liegt: Zeige etwas Interessantes! Die Vielfalt der Themen, das Springen zwischen den Gegenstandsbereichen, das Kokettieren mit dem Sensationellen, Überraschenden, Verblüffenden, die Lust an den spektakulären Entdeckungen und Innovationen charakterisieren solches Wissen: vom Wilden Westen auf den Mars, vom Judasevangelium zur Funktionsweise von Geländebaggern, von den Segnungen der Nahrungsmittelindustrie zum Totenkult der Etrusker. Die Beliebigkeit des Wissens aus der Quizshow wiederholt sich, nun allerdings als spannende, spektakuläre, je nach Jahreszeit auch schon einmal besinnliche Story. Daß solche Beliebigkeit des Wissens auch auf die Spitze getrieben noch einen eigenen Reiz hat, zeigen nicht zuletzt Bestseller wie Schotts Sammelsurium , in dem wahrlich alles Mögliche und Unmögliche, Sinnige und Unsinnige aufgelistet wird, von den Todesarten burmesischer Könige bis zu den Kindern von Thomas Mann. 2
Wissen unter diesen Bedingungen erscheint vor allem unter dem Aspekt der Verblüffung: erstaunlich, was es alles gibt und wie die Dinge funktionieren oder hergestellt werden. Die meisten Wissenschaftssendungen sind deshalb auch in hohem Maße an Technologien interessiert. Sie sind erfolgreich, weil darin tatsächlich ein entscheidendes Motiv alles Wissens angesprochen wird: die Neugier. Neugier, curiositas , gehörte spätestens seit der frühen Neuzeit zu den entscheidenden Triebfedern des Erkenntnisprozesses. Gleichzeitig war sie immer dem Verdacht ausgesetzt, sich an das Beliebige, Einzelne, Außergewöhnliche, Unnötige zu verlieren und darüber die grundlegenden Zusammenhänge und Wahrheiten zu übersehen. Ludwig Wittgenstein hat die »oberflächliche Neugier auf die jüngsten wissenschaftlichen Entdeckungen« einmal einen der »schnödesten Wünsche des modernen Menschen« genannt. 3 Kein populäres Wissensmagazin, das nicht versuchte, diesen schnöden Wunsch zu befriedigen.
Der Unterhaltungswert des Wissens, mit und ohne Nutzen, ist der modernen Wissenskultur allerdings von Anfang an eingeschrieben. Im 17. Jahrhundert standen die aufblühenden Wissenschaften und deren Ergebnisse sogar ganz erheblich im Dienste einer geselligen Unterhaltung, 4 erfolgreiche Bücher wie Georg Philipp Harsdörffers gattungsbildende Frauenzimmer-Gesprächspiele (1641–1649) oder Johann Adam Webers Hundert Quellen Der von allerhand Materien handelnden Unterredungs-Kunst aus dem Jahre 1676 versuchten Handreichungen für jene Kunst der Konversation zu geben, die gleichermaßen gelehrt wie unterhaltsam, kurzweilig wie bildend sein sollte. Es wäre eine Überlegung wert, in der Konjunktur, die das unterhaltsame Wissen gegenwärtig erlebt, nicht nur einen Tribut an die immanente Logik der Mediengesellschaft zu sehen, sondern auch eine Rückkehr zu den Wurzeln der sozialisierten Neugier der Moderne. Erst die Bildungsideen der Aufklärung und des Neuhumanismus hatten versucht, das Wissen vom Geruch des Kuriosen und Beliebigen zu befreien und aus einem unterhaltsamen Gesellschaftsspiel eine Selbstverpflichtung des Menschen zu machen, die Grundbedingung für das Verständnis der Kultur und damit für die Entfaltungsmöglichkeiten des modernen Subjekts sein sollte.
Unter den Voraussetzungen der Unterhaltungsindustrie und angesichts der Unendlichkeit und Beliebigkeit des
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