Thursday Next 04 - Es ist was Faul
1. Ein Minotaurus in Nebraska
Seit ich – damals hochschwanger – zur Leiterin der Jurisfiktion ernannt worden war, jener hoch qualifizierten Polizeiorganisation, die innerhalb der literarischen Welt für Ordnung sorgt, waren zwei Jahre vergangen. Genau wie die anderen Agenten der Jurisfiktion hatte ich die Literatur vor allen möglichen Attentaten beschützt und – meist erfolgreich – die Ideen der Autoren und die Erwartungen der Leser gegen die bürokratischen Richtlinien des GattungsRates verteidigt. Die Arbeit war äußerst abwechslungsreich. Mal musste ich den unglaublich schüchternen Darcy überreden, aus der Toilette zu kommen, mal musste ich einen Angriff der Marsbewohner abwehren, die zum x-ten Mal versuchten, Die Leute von Seldwyla zu überfallen. Es gab viele bizarre Abenteuer, aber wenn Das Besondere und Das Völlig Verrückte ganz normal werden, beginnt man sich nach dem Gewöhnlichen dringend zu sehnen.
THURSDAY NEXT Die Jurisfiktion-Aufzeichnungen
Gemessen an seiner literarischen Bedeutung hatte uns der Minotaurus schon viel zu viel Ärger gemacht. Nach seinem Ausbruch aus dem Käfig im
Schwert der Zanobier
hatte uns der stierköpfige Sohn der kretischen Königin auf seinem Weg in den Wilden Westen durch Dutzende von Romanen gejagt. Bereits einen Monat nach seiner Flucht war er in den
Riders of the Purple Sage
gesehen worden. Wir waren damals noch fest entschlossen, ihn lebend zu fangen, und hatten ihn deshalb mit einer kleinen Dosis Slapstick beschossen. Wir hatten die Theorie, dass wir ihn mühelos finden könnten, wenn im Wilden Westen plötzlich Tortenschlachten ausbrechen oder Leute gegen Laternenpfahle rennen würden, aber das Experiment scheiterte kläglich. Der Slapstick war entweder nicht stark genug, oder die Abneigung der BuchWelt gegen visuelle Spaße hatte ihn zu stark verdünnt.
Jedenfalls suchten wir den Minotaurus zwei Jahre nach seiner Flucht immer noch in der weiten Prärie, wo er sich am liebsten beim Viehtrieb versteckte. Und so kam es, dass Commander Bradshaw und ich eines Tages oben auf Seite 73 einer wenig bekannten Cowboystory aus den dreißiger Jahren mit dem Titel
Death at DoubleX Ranch
landeten.
»Na, was meinst du, altes Mädchen?«, fragte Bradshaw, dessen Safarianzug und Tropenhelm absolut ideal für den Nebraska-Sommer waren. Er war fast einen Kopf kleiner als ich, aber viel älter. Seine sonnenverbrannte Haut und sein schneeweißer Schnurrbart stammten aus Afrika. Er war die Hauptfigur von dreiundzwanzig
Commander Bradshaw
-Kolonialromanen aus den zwanziger und dreißiger Jahren, die 1963 zum letzten Mal gelesen worden waren. Viele Romanfiguren definieren sich über ihre Popularität, bei Commander Bradshaw war das nicht so. Nachdem er sein abenteuerliches und gänzlich fiktionales Leben damit verbracht hatte, Britisch-Ostafrika gegen alle möglichen und unmöglichen Feinde zu verteidigen und praktisch jedes Tier zu töten, das dafür in Frage kam, genoss er jetzt seinen Ruhestand. Seine Kollegen von Jurisfiktion wussten seine Furchtlosigkeit unter Feuer und seine detaillierte Kenntnis der gesamten BuchWelt zu schätzen.
Er zeigte auf das verwitterte Schild mit der Aufschrift: PROVIDENCE,
2 387 Einwohner
. Der kleine Ort lag etwa eine halbe Meile vor uns in einer Senke.
Ich hob die Hand, um meine Augen vor der Sonne zu schützen, und sah mich um. Ein Teppich von Salbeibüschen erstreckte sich bis zu den Bergen. Die wiederkehrenden Muster der Vegetation zeigten deutlich, dass ihre Ursprünge fiktional waren. Die chaotische Natur der wirklichen Welt zu beschreiben, war dem Autor nicht möglich gewesen. In der künstlichen Welt, in der ich jetzt seit zwei Jahren wohnte, gab es im Wald nur acht verschiedene Baumarten, am Strand nur fünf verschiedene Kiesel und am Himmel nur zwölf verschiedene Wolken. Am Anfang hatte mich das nicht weiter gestört, aber seit einigen Monaten sehnte ich mich nach einer Welt, wo jeder Baum, Felsen und Hügel seine eigene Gestalt und Identität hat. Die Sonnenuntergänge vermisste ich ganz besonders. Selbst die besten Beschreibungen konnten einem echten nicht das Wasser reichen. Ich sehnte mich danach, wieder einmal die zarten Farben am Himmel zu sehen, wenn die Sonne unter den Horizont sank, den langsamen Wandel von Rot zu Orange, Blau und Lila und Schwarz.
Bradshaw sah mich an und hob fragend die linke Braue. Als Protokollführerin – das heißt als Chefin der Jurisfiktion – hätte ich eigentlich gar nicht im Außendienst
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