Tiefe Wunden
inneren Auge erstand das Bild des Schlosses, wie es einmal ausgesehen hatte. Die klassizistische Fassade, wunderschön in ihrer schlichten Symmetrie, der schmale Mittelrisalit von zweistöckigen Seitenflügeln eingefasst, die wiederum von mächtigen Pavillons mit Haubendächern und darüberliegenden durchbrochenen Türmchen flankiert waren. Schlanke dorische Säulen vor dem Hauptportal, eine schattige Allee, die zum Schloss führte, ein weitläufiger Park mit herrlichen hundertjährigen Rotbuchen und Ahornbäumen. Die Weite der ostpreußischen Landschaft, der Zusammenklang von Wasser und Wäldern hatten ihn schon bei seinem ersten Besuch vor zwei Jahren tief berührt. Dies war das Land seiner und Elards Vorfahren, und die Ereignisse im Keller dieses Schlosses vor nunmehr dreiundsechzig Jahren hatten letztendlich Einfluss auf ihrer beider Leben genommen. In den vergangenen vier Monaten hatte sich viel verändert. Marcus Nowak hatte seiner Frau und seiner Familie die Wahrheit gesagt und war zu Elard auf den Mühlenhof gezogen. Seine Hand war nach zwei weiteren Operationen beinahe wieder so beweglich wie früher. Elard war ganz und gar verändert. Die Geister der Vergangenheit quälten ihn nicht mehr, die Frau, die er für seineMutter gehalten hatte, saß im Gefängnis, ebenso ihr Sohn Siegbert und auch Anja Moormann, die Profikillerin. Elard hatte von Marleen Ritter die Tagebücher seiner Tante Vera zurückerhalten. In ein paar Wochen, pünktlich zur Buchmesse, würde die Biographie erscheinen, die ihrem Verfasser den Tod und der Familie Kaltensee schon im Voraus wochenlang Schlagzeilen eingebracht hatte.
Ungeachtet dessen war Jutta Kaltensee von ihrer Partei als Spitzenkandidatin für die Landtagswahl im kommenden Januar aufgestellt worden und hatte gute Chancen, die Wahl für sich zu gewinnen. Marleen Ritter hatte vorübergehend die Geschäftsführung der KMF übernommen und war nun dabei, mit Unterstützung des Vorstandes die Firma in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. In den Kisten auf dem Mühlenhof war sogar die Urkunde gefunden worden, die Josef Stein, dem jüdischen Vorbesitzer der KMF, die Rückübereignung der Firma im Falle seiner Rückkehr nach Deutschland bestätigt hatte. Vera/Edda hatte in ihrer Überheblichkeit tatsächlich nie etwas vernichtet.
Aber das alles war Vergangenheit. Marcus Nowak lächelte, als er Elard, den Freiherrn von Zeydlitz-Lauenburg, auf sich zukommen sah. Alles hatte sich zum Besseren gewendet. Er hatte sogar den Vertrag als verantwortlicher Restaurator bei der Sanierung der Frankfurter Altstadt in der Tasche. Außerdem würden sie gemeinsam ihren Lebenstraum in Masuren verwirklichen. Der Bürgermeister von Gizycko hatte dem Verkauf des Schlosses an Elard bereits mündlich zugestimmt; ihren Plänen stand nicht mehr viel im Weg. Sobald der Kaufvertrag unterschrieben war, würden die sterblichen Überreste von Auguste Nowak gemeinsam mit den Knochen aus dem Keller, die man anhand von DNA-Vergleichen zum Teil hatte identifizieren können, auf dem alten Familienfriedhof am Seeufer beigesetzt werden. So würde Auguste gemeinsam mitihrem geliebten Elard, ihren Eltern und ihrer Schwester die letzte Ruhe in ihrer Heimat finden.
»Und?« Elard blieb neben ihm stehen. »Was denkst du?«
»Es ist machbar.« Marcus Nowak runzelte nachdenklich die Stirn. »Aber ich fürchte, es wird wahnsinnig teuer werden und Jahre dauern.«
»Na und?« Elard grinste und legte einen Arm um seine Schulter. »Wir haben doch alle Zeit der Welt.«
Marcus lehnte sich an ihn und blickte wieder zum Schloss hinüber.
»Hotel Auguste Viktoria am See«, sagte er und lächelte versonnen. »Ich kann es schon vor mir sehen.«
Danksagung
Ich danke Claudia und Caroline Cohen, Camilla Altvater, Susanne Hecker, Peter Hillebrecht, Simone Schreiber, Catrin Runge und Anne Pfenninger für Probelesen und Feedback zum Manuskript.
Ganz herzlichen Dank an Prof. Dr. Hansjürgen Bratzke, den Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Frankfurt, für die ausführliche Beantwortung meiner zahlreichen Fragen zu rechtsmedizinischen Details. Für Fehler in fachlicher Hinsicht bin allein ich verantwortlich.
Danke auch an Kriminalhauptkommissar Peter Deppe vom K11 der Regionalen Kriminalinspektion Hofheim, der alle meine Fragen zu Ermittlungsabläufen und zur Arbeit der Kriminalpolizei erschöpfend beantwortet und mich unter anderem darauf aufmerksam gemacht hat, dass sich alle Kripobeamten in ganz Deutschland duzen.
Ein ganz
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