Tiefe Wunden
kommandierte die vermeintliche Haushälterin.
Pia brach der Schweiß am ganzen Körper aus, als der Strick plötzlich nachgab. Sie ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder, um Gefühl in die Finger zu bekommen. Ihreeinzige Chance war der Überraschungseffekt. Elard Kaltensee machte mit resignierter Miene einen Schritt auf das Loch zu, das Henning und Miriam in den Boden gegraben hatten, und ging gehorsam auf die Knie. Bevor Anja Moormann oder ihr Komplize reagieren konnten, zog Pia die Pistole aus dem Hosenbund, entsicherte sie und drückte ab. Der Schuss krachte ohrenbetäubend und zerfetzte den Oberschenkel des zweiten Schwarzgekleideten. Anja Moormann zögerte keine Sekunde. Sie hatte ihre Waffe noch immer auf Elard Kaltensees Kopf gerichtet und schoss. Gleichzeitig machte Auguste Nowak eine Bewegung nach vorne und warf sich vor ihren am Boden knienden Sohn. Der Schalldämpfer ließ nicht mehr als ein dumpfes Ploppen hören, die Kugel traf die alte Frau in der Brust und schleuderte sie nach hinten. Bevor Anja Moormann ein zweites Mal schießen konnte, hechtete Pia nach vorne und prallte mit ihrem ganzen Gewicht gegen sie. Sie stürzten zu Boden. Pia lag auf dem Rücken, Anja Moormann kniete auf ihr, ihre Hände schlossen sich um Pias Hals. Pia wehrte sich mit allen Kräften, versuchte, sich an Tricks aus Selbstverteidigungskursen zu erinnern, aber sie hatte in der Realität noch nie eine zu allem entschlossene durchtrainierte Berufskillerin abwehren müssen. Im schwächer werdenden Licht des batteriebetriebenen Scheinwerfers nahm sie das vor Anstrengung verzerrte Gesicht Anja Moormanns nur noch verschwommen wahr. Sie bekam keine Luft mehr und hatte das Gefühl, die Augen würden ihr jeden Augenblick aus dem Kopf springen. Bei vollständiger Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zum Gehirn würde sie nach etwa zehn Sekunden das Bewusstsein verlieren, nach weiteren fünf bis zehn Sekunden würden sämtliche Hirnfunktionen irreversibel erlöschen. Der Gerichtsmediziner würde bei der Leichenschau punktförmige Unterblutungen in ihren Bindehäuten feststellen, einen Bruch des Zungenbeins und Stauungsblutungen inMund- und Rachenschleimhaut. Aber sie wollte nicht sterben, nicht jetzt und nicht hier in diesem Keller! Sie war doch nicht einmal vierzig! Pia bekam eine Hand frei und krallte ihre Finger mit einer Kraft, die ihr die Todesangst verlieh, in Anja Moormanns Gesicht. Die Frau keuchte auf, sie fletschte die Zähne und knurrte wie ein Pitbull, und ihr Griff lockerte sich bereits. Da traf Pia etwas Hartes an der Schläfe, und sie verlor das Bewusstsein.
Jutta Kaltensee saß auf ihrem Platz inmitten ihrer Fraktionskollegen in der dritten Reihe im Plenarsaal des Hessischen Landtags gegenüber der Regierungsbank und lauschte mit einem Ohr dem ewig gleichen Wortgefecht, das sich der Ministerpräsident und der Vorsitzende der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 unter Punkt 66 der Tagesordnung über das Thema »Flughafenausbau« lieferten, war aber in Gedanken ganz woanders. Egal wie oft ihr Dr. Rosenblatt versicherte, dass die Polizei nichts gegen sie in der Hand hatte und sich alle Verdächtigungen und Beschuldigungen ausschließlich gegen Siegbert und ihre Mutter richteten, sie war beunruhigt. Die Sache mit dem Kommissar und den Fotos war ein Fehler gewesen, darüber war sie sich mittlerweile im Klaren. Sie hätte sich ganz aus der Sache heraushalten sollen. Aber Berti, dieser Schwächling, hatte Nerven gezeigt, nachdem er jahrelang ohne einen Hauch von Gewissensbissen und ohne Fragen zu stellen Veras Anweisungen ausgeführt hatte. Jutta konnte es sich an diesem Punkt ihrer Karriere überhaupt nicht leisten, mit Mordermittlungen und düsteren Familiengeheimnissen in Verbindung gebracht zu werden. Auf dem nächsten Landesparteitag würde ihre Partei sie zur Spitzenkandidatin für den Landtagswahlkampf im kommenden Januar aufstellen, und bis dahin musste sie die Lage irgendwie in den Griff bekommen.
Immer wieder blickte sie auf das Display ihres stumm geschalteten Handys. So bemerkte sie auch nicht gleich die Unruhe, die sich im Plenarsaal ausbreitete. Erst als der Ministerpräsident seine Rede unterbrach, hob sie den Kopf und sah zwei uniformierte Polizisten und eine rothaarige Frau vor der Regierungsbank stehen. Sie sprachen leise mit dem Minister- und dem Landtagspräsidenten, die konsterniert wirkten, und blickten sich suchend im Saal um. Jutta Kaltensee spürte das erste Prickeln echter Panik im Genick.
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