Tiefe Wunden
Es gab keine Spur zu ihr. Unmöglich. Henri würde sich eher vierteilen lassen, als den Mund aufzumachen. Nun kam die Rothaarige mit entschlossenem Schritt direkt auf sie zu. Obwohl ihr die Angst wie Eiswasser durch die Adern kroch, bemühte sich Jutta Kaltensee um eine gelassene Miene. Sie besaß Immunität, man konnte sie nicht einfach verhaften.
Der Kellerraum roch klamm und unbenutzt. Bodenstein tastete nach dem Lichtschalter und verspürte tiefe Erleichterung, als er im aufflackernden Licht der Neonröhre Thomas Ritter gefesselt auf einem mit Farbklecksen beschmierten Metalltisch liegen sah. Eine junge Japanerin hatte der Polizei nach wiederholtem Klingeln die Eingangstür des Kunsthauses auf dem Römerberg geöffnet. Sie war eine der Künstlerinnen, die von der Eugen-Kaltensee-Stiftung gefördert wurden, und lebte und arbeitete seit einem halben Jahr im Kunsthaus. Verwirrt und stumm hatte sie zugesehen, wie Bodenstein, Behnke, Henri Améry und vier Beamte der Frankfurter Polizei an ihr vorbei zur Kellertür strebten.
»Hallo, Herr Dr. Ritter«, sagte Bodenstein und trat an den Tisch. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sein Gehirn akzeptierte, was seine Augen bereits erfasst hatten. Thomas Ritter lag mit weit geöffneten Augen da und war tot. Man hatteihm eine Kanüle in die Halsschlagader gebohrt, und sein Herz hatte mit jedem Schlag das Blut aus seinem Körper in einen Eimer gepumpt, der unter dem Tisch stand. Bodenstein verzog angewidert das Gesicht und wandte sich ab. Er hatte die Nase voll von Tod und Blut und Mord. Er hatte es unendlich satt, den Verbrechern immer einen halben Schritt hinterherzuhetzen und nichts, aber auch gar nichts verhindern zu können! Warum nur hatte Ritter nicht auf ihre Warnungen gehört? Wie hatte er die Drohungen der Familie Kaltensee derart überheblich auf die leichte Schulter nehmen können? Für Bodenstein war es nicht nachzuvollziehen, dass der Wunsch nach Rache stärker sein konnte als jede Vernunft. Hätte Thomas Ritter die Finger von dieser unseligen Biographie und von den Tagebüchern gelassen, so wäre er in ein paar Monaten Vater geworden und hätte ein langes, glückliches Leben vor sich haben können! Das Handyklingeln riss Bodenstein aus seinen Gedanken.
»Auch der M-Klasse-Mercedes hat Doba jetzt verlassen«, teilte ihm Ostermann mit. »Ich kann Pia aber immer noch nicht erreichen.«
»Verdammt.« Bodenstein fühlte sich so elend wie selten zu vor in seinem Leben. Er hatte wirklich alles falsch gemacht. Hätte er Pia doch nur diese Reise nach Polen verboten! Nicola hatte recht: Es ging sie nichts an, was dort vor sechzig Jahren geschehen war. Ihre Aufgabe war es, die Mordfälle aufzuklären, mehr nicht.
»Was ist mit Ritter?«, fragte Ostermann. »Haben Sie ihn gefunden?«
»Ja. Er ist tot.«
»Oh, Scheiße! Seine Frau sitzt unten und will nicht gehen, bevor sie nicht mit Ihnen oder Pia gesprochen hat.«
Bodenstein starrte auf die Leiche und auf den Eimer mit geronnenem Blut. Sein Magen zog sich zu einem Knoten zusammen.Was, wenn Pia etwas passierte? Er verdrängte den Gedanken.
»Versuchen Sie es noch mal bei Pia und auch auf dem Handy von Henning Kirchhoff«, wies er Ostermann an und beendete das Gespräch.
»Lassen Sie mich jetzt gehen?«, fragte Henri Améry. »Nein.« Bodenstein würdigte den Mann keines Blickes. »Vorerst stehen Sie unter Mordverdacht.«
Ohne auf Amérys Proteste zu achten, verließ er den Keller. Was war in Polen passiert? Weshalb waren beide Autos auf dem Rückweg? Warum, zum Teufel, meldete Pia sich nicht wie versprochen? Um seinen Kopf legte sich der Schmerz wie ein eiserner Ring, er hatte einen widerwärtigen Geschmack im Mund. All das erinnerte ihn daran, dass er heute noch nichts gegessen, aber zu viel Kaffee getrunken hatte. Er atmete tief durch, als er auf den Römerberg trat. Die ganze Situation war außer Kontrolle geraten, er sehnte sich nach einem langen einsamen Spaziergang, um die in seinem Kopf kreisenden Gedanken sortieren zu können. Stattdessen musste er nun Marleen Ritter schonend beibringen, dass er ihren toten Mann gefunden hatte.
Als Pia zu sich kam, schmerzte ihr Hals, und sie konnte nicht schlucken. Sie öffnete die Augen und erkannte im dämmerigen Licht, dass sie sich noch immer im Keller befand. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr, jemand trat hinter sie. Sie hörte angestrengte Atemzüge, und schlagartig kehrte die Erinnerung zurück. Anja Moormann, die Pistole, der Schuss, der
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