Tiefer
noch vorstelle, es wären
die Unterarme des Captains, dann wird mir ganz anders. Was würde ich drum geben, wenn er nur einmal wirklich mitbekäme, dass
es mich gibt. Dass ich eine Haut habe, die kribbelt, sobald er mich zufällig berührt, dass ich um ihn kreise wie ein Erdtrabant
und völlig in seiner Anziehungskraft gefangen bin. Wie oft habe ich mir vorgestellt, ich könnte ihm einfach in die Arme sinken,
seine Hände auf meinen zugegebenermaßen breiten Po legen und ihm mit der Zunge über die Lippen fahren. Aber nie war er auch
nur in meine Nähe gekommen. Bis zu diesem Abend.
Er hielt eine dieser blonden Cheerleadertypen im Arm, Typ IQ gleich Gewicht, also etwa 55, und sagte wieder mal: «Echt? Aber
das ist ja schrecklich», als er mir mit seiner brennenden Zigarette zufällig zu nahe kam und meine Polyesterbluse Feuer fing.
Ich fing an zu schreien |211| und schlug mit der Handtasche auf den Arm, und da war der magische Moment, in dem der Captain den Kopf hob und mir das erste
Mal direkt in die Augen sah, mit seinen traumblauen schimmernden Staraugen in meine matschbraunen ungeschickt geschminkten.
Und noch bevor ich wusste, wie mir geschah, ließ der Captain seine Barbie fallen, griff meine Bluse und zog sie mir über den
Kopf. Er trat das Feuer aus, murmelte: «Das ist ja schrecklich», und ich versuchte, auf der Stelle zu sterben, damit er nicht
sah, dass ich in angegilbter Unterwäsche mitten in der Disko stand, mit einem Gesichtsausdruck wie eine aufblasbare Gummipuppe.
Die Meute fing prompt an zu jodeln: «Heidili, was hast du Feuer plötzlich, das Heidi steht in Flammen, hol mal einer Ziegenmilch
für das Heidi!» Sie fanden es irre komisch. Mir rollte eine Träne über die Wange, ich konnte es nicht verhindern, obwohl ich
wusste, dass jetzt ein schwarzer Strich aus aufgelöster Wimperntusche vom Auge bis zur Wange lief und ich keineswegs zart
und verletzlich aussah, sondern eher wie ein schmutziges, bockiges Kind, das man irgendwo vergessen hat.
Jetzt musste der Moment kommen, in dem der Captain sein Sakko ausziehen und mir über die Schultern legen würde, in dem er
mich aus der Disko führen und mich fragen würde, wie es mir ginge, in dem er sich für mich interessieren würde und alle meine
Wünsche in Erfüllung gehen würden. Und genauso kam es auch: Er legte mir sein Sakko über die Schulter, brachte mich von der
Tanzfläche weg, lehnte mich gegen eine Wand und sagte: |212| «Das ist schrecklich, wirklich, geht’s denn wieder.» Und dabei sah er mir in die Augen, und ich schloss sie und legte meine
Arme um seinen Nacken und zog ihn zu mir heran, und er seufzte: «Na gut, das hast du dir verdient, muss ja auch mal sein»,
und küsste mich. Das heißt, er versuchte es.
Denn ich habe niemals, niemals jemanden erlebt, der einen derartig viehischen Mundgeruch hatte. Als sei in seinem Rachen die
Pest ausgebrochen. Eine Mischung aus totem Hund und Teerfett. Und da sah ich auch, dass sein Haaransatz dringend nachgefärbt
werden musste. Ich schob ihn von mir weg, seine Meute stand mittlerweile um uns herum und glotzte wie eine Herde Almkühe,
sie konnten es nicht glauben. Er hatte die Augen noch geschlossen und murmelte: «Komm, komm, lass den Geißenpeter hier zum
Trost mal ran.» Ich warf ihm sein Sakko vor die Füße und stolzierte hoch erhobenen Hauptes im BH aus der Disko.
Mag schon sein, dass ich eher ein Gewächs bin als eine Frau. Aber ein Mauerblümchen bin ich nicht. Eher schon ein Kaktus.
Und der sticht eben, wenn man ihm zu nahe tritt.
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|213| «Fick mich!» – eine Art Nachwort
«Fick mich!» Ist das Pornographie? Wenn es ein schmieriger Fernfahrer in einem schlecht beleuchteten Film zu einer minderjährigen
Anhalterin sagt, die er vor zwei Minuten in seinen Truck gezerrt hat, und dieser Satz die einzige Dialogzeile des Films ist:
Höchstwahrscheinlich ist das Pornographie. Aber was wäre, wenn wir auf hundert Seiten miterlebt haben, wie sich ein Paar leidenschaftlich
verliebt und die Frau in einer Liebesnacht in den Flitterwochen diesen Satz halb kichernd haucht, worauf ihr Mann sie mit
Liebesschwüren überschüttet und mit zitternder Zunge für den ersten multiplen Orgasmus ihrer bis dahin eher spartanischen
sexuellen Laufbahn sorgt? Ist es dann auch Pornographie? Am Vokabular kann es nicht wirklich liegen, obwohl es daran festgemacht
wird.
Eine große deutsche Publikumszeitschrift wagte neulich die
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