Tiepolos Fehler: Kommissar Kilians erster Fall
schaute sie sich genüsslich an, trank einen Schluck und kontrollierte die Arbeiten mit einem wachen Auge.
Heinlein lag der Länge nach auf dem Rücken eines Löwen und hielt sich verkrampft an dessen Ohr fest. In der anderen Hand führte er einen Pinsel, der blaugrüne Farbe aufbrachte. Von seiner Verletzung, die er sich beim Übersteigen des Hofgartentores zugezogen hatte und die noch die Nacht zuvor behandelt worden war, ließ sich Oberhammer nicht beeindrucken. Er hatte Kilian und Heinlein in den Morgenstunden persönlich mit einer Streife abholen lassen und sie vor die Wahl gestellt, sich einem Verfahren wegen Vandalismus zu stellen oder die Fronarbeit zu leisten. Letzteres hätte für die beiden den Vorteil, so Oberhammer, dass sie sich ihrer Tat bewusst würden und über Blut, Schweiß und Tränen erfahren könnten, was es heißt, sich an königlichem Eigentum zu vergreifen.
Kilian war es egal. Er stellte die Farbdose ab, stieg vom Sockel herab und lehnte sich an den Brückensims. Er schaute nach vorne und verfolgte den Lauf des Mains. Das Sonnenlicht spiegelte sich in kleinen, glitzernden Sternen. Ein Ruderboot legte ein Stück weiter oben an der Böschung ab und ließ sich treiben.
Oberhammers lautstarke Ermahnungen, an die Arbeit zurückzukehren, erreichten ihn nicht. Sie verklangen ungehört.
Kilian zog sein Hemd aus, entledigte sich der Schuhe, Hose und Unterwäsche und stieg splitterfasernackt auf den Brückensims. Er holte kurz Schwung und sprang. Als er wieder auftauchte, legte er sich auf den Rücken, breitete Arme und Beine auseinander, schloss die Augen und ließ sich von der Strömung mainabwärts treiben. Er wollte nichts mehr denken, nichts mehr hören oder sehen.
Oberhammer schrie ihm nach. Er drohte ihm mit einem Verfahren und Entlassung. Heinlein rutschte vom Löwen herunter, setzte sich auf den Brückensims und schaute Kilian verloren nach. Mehrmals hatte er ihn nach dem Ablauf des gestrigen Abends befragt, doch Kilian hatte beharrlich geschwiegen. Kein Wort hatte er preisgegeben.
*
Der Andrang war immens. Vor den verglasten Verkaufshäuschen standen die Leute mit Körben, Kerzen, Wein- und Sektflaschen unter den Armen und hatten das Geld abgezählt bereit. Das war wichtig, denn je schneller man an das Tor kam, desto größer war die Chance auf einen der begehrten Rasenplätze. Die Stimmung unter den Besuchern der ersten ›Kleinen Nachtmusik‹ in diesem Jahrhundertsommer war ausgelassen und hoffnungsfroh. Das Wetter war wie gemacht für zwei Stunden leichter, klassischer Musik in den Lustgärten der Fürstbischöfe. Die Sonne stand wie festgenagelt zwischen den Türmen des Domes und gab der Stadt ein toskanisches Flair.
Das Sicherheitspersonal hatte Mühe, dem Ansturm gerecht zu werden. Eintrittskarten mussten entwertet werden, während gleichzeitig die Menge von hinten nach vorne drängte, alle wollten auf Platzjagd gehen. Dabei gingen manche Flaschen zu Bruch, frisch Gebackenes wurde zerdrückt, die Vorfreude auf einen schönen Abend bei vielen auf eine harte Belastungsprobe gestellt.
Auf der anderen Seite der Residenz, am Gesandtentor, ging es weitaus gediegener zu. Hier wurde nicht gedrängelt, geschoben und vermaledeit, hier stand man geduldig im kleinen Schwarzen und im leichten Sommeranzug in der Gruppe zusammen und begrüßte die Honoratioren der Stadt.
Unter den ehrenwerten Gästen befand sich auch Oberhammer nebst Gattin und zwei Staatssekretären aus München, ebenfalls mit Anhang. Oberhammer legte viel Wert darauf, dass die Irritationen der letzten Tage ein für alle Mal aus der Welt geschafft worden waren. Uschi bemühte sich indes, den Ehefrauen Ratschläge für einen nächtlichen Schoppen nach dem Konzert zu geben. Sie nahmen es zur Kenntnis.
»Würzburg, mal sehen, schlimmer als Fürstenfeldbruck kann es nicht sein«, merkte eine Dame an.
Claudia und Schorsch kamen sich zwischen den illustren Gästen verloren vor. Das war eine andere Welt, die sie nicht kannten und heute Abend auch nicht kennen lernen wollten. Denn heute Abend standen nicht alle diese Leute hier im Vordergrund, sondern Vera. Ihre Tochter und niemand anderes.
Claudia hatte ihren Schorsch in einen hellen Sommeranzug gesteckt, der ihm die Aura eines Freigeistes, eines Bon Vivant verlieh. Er drehte sich in der locker aufgestellten Warteschlange mehrmals um und hoffte Kilian zu sehen. Seitdem er in den Main gesprungen war, hatte niemand mehr etwas von ihm gehört. Keine Meldung, dass ein
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