Tiere essen
grausam sei. Immer wieder bekam ich das von Viehzüchtern zu hören, die mich davon überzeugen wollten, dass sie ihre Tiere vor den außerhalb der Einzäunungen drohenden Gefahren beschützen würden. Die Natur ist kein Kindergeburtstag, das stimmt. (Aber Kindergeburtstage sind auch nicht immer einfach.) Und es stimmt auch, dass Tiere auf sehr guten Farmen oft ein besseres Leben haben als in der freien Wildbahn. Trotzdem ist die Natur nicht grausam. Ebenso wenig sind es die Tiere, die in der Natur töten und einander manchmal quälen. Grausamkeit hängt davon ab, was man unter Grausamkeit versteht und inwieweit man sich gegen sie zu entscheiden vermag. Oder sich entscheidet, sie zu ignorieren.
Instinkt
Die meisten von uns kennen die erstaunlichen Navigationsfähigkeiten von Zugvögeln, die über Kontinente hinweg zu ganz bestimmten Nistgründen zurückfinden. Als man mir das in der Schule beibrachte, wurde es mir mit »Instinkt« erklärt. (»Instinkt« ist immer noch die bevorzugte Erklärung, wenn tierisches Verhalten auf zu viel Intelligenz hinzudeuten scheint, siehe: INTELLIGENZ.) Instinkt könnte jedoch kaum erklären, wieso Tauben zur Navigation Verkehrswege der Menschen heranziehen. Tauben folgen großen Überlandstraßen und nehmen bestimmte Abzweigungen, um an ihr Ziel zu gelangen, wobei sie sich wahrscheinlich an die gleichen Orientierungspunkte halten wie die unter ihnen fahrenden Menschen.
Früher wurde Intelligenz sehr eng als intellektuelle, kognitive Fähigkeit definiert, inzwischen sprechen wir von verschiedenen Intelligenzen wie räumlich-visueller, zwischenmenschlicher, emotionaler oder musikalischer Intelligenz. Ein Gepard ist nicht intelligent, weil er schnell rennen kann. Aber seine unheimliche Fähigkeit, den Raum zu vermessen – die Hypotenuse zu berechnen, die Bewegungen der Beute vorauszuahnen und im richtigen Moment anzugreifen –, das ist eine bedeutsame geistige Leistung. Das als bloßen Instinkt abzutun ist ungefähr so sinnvoll, wie den Kniesehnenreflex beim ärztlichen Hammerschlag aufs Knie mit der Fähigkeit gleichzusetzen, einen entscheidenden Elfmeter zu verwandeln.
Intelligenz
Generationen von Farmern wussten, dass kluge Schweine lernen, die Riegel ihrer Gattertore zu öffnen. Der britische Naturkundler Gilbert White schrieb 1789 von einer solchen Sau, die zunächst den Riegel des Gattertors aufbekommen hatte, um sodann »alle weiteren dazwischenliegenden Tore zu öffnen und ganz allein zu einem entfernt liegenden Hof zu marschieren, wo [ein Eber] gehalten wurde; und sobald ihrem Zweck gedient war« – wunderbar ausgedrückt –, »kehrte sie auf nämlichem Wege nach Hause zurück«.
Wissenschaftler haben eine Art Schweinesprache belegt, Schweine kommen, wenn man (ein Mensch oder ein anderes Schwein) sie ruft, sie spielen mit Spielzeugen (mit manchen lieber als mit anderen), und man hat beobachtet, dass sie anderen Schweinen in Not zu Hilfe eilen. Dr. Stanley Curtis, ein der Industrie zugeneigter Nutztierforscher, hat die kognitiven Fähigkeiten von Schweinen empirisch untersucht, indem er ihnen beibrachte, mithilfe eines Joysticks, der für Rüssel umgebaut war, Videospiele zu spielen. Sie lernten die Spiele nicht nur, sondern auch genauso schnell wie Schimpansen und zeigten dabei eine bemerkenswerte Auffassungsgabe für abstrakte Repräsentation. Und die Geschichte von Schweinen, die Riegel öffnen, geht noch weiter: Dr. Ken Kephart, ein Kollege vonCurtis, bestätigt nicht nur, dass Schweine dazu in der Lage sind, sondern ergänzt, dass sie dabei oft paarweise arbeiten, dass die meisten Ausbrecher Wiederholungstäter sind und dass sie gelegentlich auch anderen Schweinen die Tore öffnen. Schweineintelligenz gehört zur amerikanischen Bauernhof-Folklore, die gleichzeitig Fische und Hühner für besonders dumm hält. Sind sie das wirklich?
Intelligenz?
1992 gab es lediglich 70 Fachartikel über Lernverhalten bei Fischen – ein Jahrzehnt später waren es bereits 500 (inzwischen gibt es mehr als 640 Artikel). Bei keinem anderen Tier hat sich unser Kenntnisstand so rasch und so dramatisch verändert. Wer Anfang der 1990er-Jahre weltweit anerkannter Fachmann für die geistigen Fähigkeiten von Fischen war, wäre heute allenfalls Einsteiger.
Fische bauen komplexe Nester, gehen monogame Beziehungen ein, jagen zusammen mit anderen Arten und benutzen Hilfsmittel. Sie erkennen einander als Individuen (und merken sich, wem zu trauen ist und wem nicht). Sie treffen individuelle
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