Tiere essen
immer noch stolz darauf.
Als ich auf einem Video sah, wie Rindern im größten koscheren Schlachthof der Welt, AgriProcessors in Postville, Iowa, regelmäßig bei vollem Bewusstsein Luft-und Speiseröhre aus den aufgeschlitzten Kehlen gerissen wurden, wie sie aufgrund schlampiger Schlachtung bis zu drei Minuten lang leiden mussten und ihnen Elektroschocker ins Gesicht gehalten wurden, nahm mich das viel stärker mit als die unzähligen Male, da ich von solchen Vorfällen in konventionellen Schlachthäusern gehört hatte.
Zu meiner Erleichterung sprach sich auch die jüdische Gemeinde lautstark gegen den Betrieb in Iowa aus. Der Vorsit zende der Rabbinerversammlung des Conservative Movement sandte folgende Botschaft an jeden seiner Rabbis: »Wenn ein Unternehmen, das sich als koscher bezeichnet, gegen das Ver bot des tza’ar ba’alei hayyim [unnötigen tierischen Leids] ver stößt, also einem von Gottes lebendigen Geschöpfen Schmerz zufügt, so muss sich dieses Unternehmen vor der jüdischen Gemeinde und letztlich vor Gott verantworten.« Der Inhaber des orthodoxen Talmud-Lehrstuhls an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan, Dr. Chaim Milikowsky, protestierte eben falls, und das sehr wortgewandt: »Es ist sehr gut möglich, dass ein Schlachthof, der auf solche Weise Schechita [koscheres Schlachten] betreibt, sich einer Hillul Haschem, einer Enteh rung des Namens Gottes, schuldig macht – denn zu behaupten, Gott sei nur an der Einhaltung der rituellen Gesetze und nicht der moralischen Gebote interessiert, heißt, seinen Namen zu entehren.« Und mehr als 50 einflussreiche Rabbis, darunter der Vorsitzende der liberalen Reform Conference of American Rabbis und der Dekan der konservativen Ziegler School of Rab binic Studies, gaben eine gemeinsame Erklärung heraus, in der es unmissverständlich heißt: »Die große Tradition des Juden tums, Mitgefühl für Tiere zu lehren, ist durch diese systematischen Misshandlungen gebrochen worden und muss wiederhergestellt werden.«
Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Art von Grausamkeit, wie sie bei AgriProcessors dokumentiert wurde, aus der koscheren Lebensmittelindustrie verbannt worden ist. Solange auch dort Massentierhaltung vorherrscht, ist das gar nicht möglich.
Das wirft eine schwierige Frage auf, die ich nicht als Gedankenexperiment verstanden wissen, sondern ernsthaft stellen will: Ist es in unserer Welt – nicht der Hirte-und-Herde-Welt der Bibel, sondern unserer überbevölkerten Welt, in der Gesetz und Gesellschaft die Tiere als Ware behandeln – überhaupt möglich, Fleisch zu essen, ohne »einem von Gottes lebendigen Geschöpfen Schmerz zuzufügen«, ohne (selbst unter größter und wahrhaftiger Bemühung) »den Namen Gottes zu entehren«? Ist das Konzept »koscheres Fleisch« ein Widerspruch in sich geworden?
Leiden
Was ist Leiden? Die Frage setzt ein Subjekt voraus, das leidet. Selbst wer ernsthaft daran zweifelt, dass Tiere leiden, gesteht ihnen durchaus zu, dass sie auf einer bestimmten Ebene »Schmerzen empfinden«. Er spricht ihnen aber die Art des Seins ab – ein allgemeines mental-emotionales Erleben oder eine »Subjekthaftigkeit« –, die dieses Leiden unserem eigenen gleichsetzen und ihm damit eine Bedeutung zugestehen würde. Ich glaube, dieser Widerspruch deutet auf etwas hin, das für viele Menschen sehr real und lebendig ist, nämlich das Gefühl, dass dasLeiden der Tiere einfach in eine andere Kategorie gehört und daher nicht so wichtig ist (wenn auch bedauerlich).
Wir alle haben ein starkes Gespür dafür, was Leiden bedeutet, aber das lässt sich sehr schwer in Worte fassen. Als Kinder lernen wir die Bedeutung des Leidens in der Interaktion mit anderen Lebewesen – mit Menschen, vor allem der eigenen Familie, und mit Tieren. Das Wort Leiden bedeutet immer das Gefühl einer gemeinsamen Erfahrung mit anderen – ein gemeinsames Drama. Es gibt natürlich speziell menschliche Arten des Leidens – ein unerfüllter Traum, die Erfahrung von Rassismus, körperliche Scham und so weiter –, aber ist deswegen das Leiden der Tiere »kein richtiges Leiden«?
Der wichtigste Teil von Definitionen oder anderen Überlegungen über das Leiden ist nicht, was sie uns über das Leiden sagen – über neuronale Netze, Nozizeptoren, Prostaglandine oder Opioidrezeptoren –, sondern, was sie uns darüber sagen, wer leidet und wie wichtig wir dieses Leiden nehmen sollten. Es mag philosophisch schlüssige Wege geben, sich die Welt und die
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