Tiffany Sexy Band 79
blies immer noch heftig, und die Schneeflocken stachen Tenley ins Gesicht. Sie legte den Kopf zurück. Der Himmel war immer noch grau verhangen.
Sie musste daran denken, wie der Himmel ausgesehen hatte, als sie und Tommy damals losgesegelt waren. Das Bild war so lebendig vor ihrem geistigen Auge, fast wie eine Fotografie. Ein Sturm hatte ihr damals den Bruder genommen. Jetzt hatte ein Sturm ihr Alex gebracht. Gab ihr das Schicksal zurück, was sie damals verloren hatte? Tenley inhalierte tief die kalte Morgenluft. Sie hatte nie an solche Dinge wie Karma oder Schicksal geglaubt, aber sie fragte sich, warum Alex plötzlich in ihr Leben getreten war. Ein paar Minuten früher wären sie aneinander vorbeigefahren. An einem anderen Tag, zu einer anderen Stunde, wären sie sich überhaupt nicht begegnet. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Der Pferdestall war etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt, ein einfacher Holzverschlag, rot gestrichen, wie es hier üblich war. An einer Ecke befand sich ein Turm, fast drei Stockwerke hoch. Ihr Großvater hatte ihn gebaut, er hatte sein Atelier darin gehabt. An drei Wänden befanden sich große Fenster, sodass man sowohl den Wald als auch die Bucht einsehen konnte.
Tenley stapfte durch den Schnee bis zur Stalltür, holte eine Schneeschaufel heraus und kehrte die Stufen vor dem Atelier frei. Dann ging sie hinein, froh, dem eisigen Wind zu entkommen. Auf der Treppe war es genauso kalt wie draußen, doch oben im Studio war es recht gemütlich.
Tenley ließ ihre Jacke auf den Boden fallen und ging zu dem Fenster, das auf den See hinausging. Es schneite immer noch so stark, dass man kaum dreißig Meter weit sehen konnte.
Sie seufzte und setzte sich an den riesigen Zeichentisch in der Mitte des Raumes. Sein Werkzeug hatte ihr Großvater mit in die Stadt genommen, doch den Tisch hatte er hier gelassen in der Hoffnung, dass Tenley ihn nutzen würde.
Sie und ihr Großvater hatten sich immer nahegestanden. Nach Tommys Tod war er der Einzige gewesen, dessen Anwesenheit sie ertragen hatte. Nachdem ihre Großmutter gestorben war, hatte sie deren Job übernommen und kümmerte sich um die geschäftlichen Belange der Galerie.
Sie arbeitete hauptsächlich am Telefon. Wenn Kunden ins Geschäft kamen, kümmerte sich meistens ihr Großvater um sie. Er hasste es, sich um geschäftliche und organisatorische Details kümmern zu müssen. Es war also ein perfektes Arrangement. Würde Tenley nicht für ihn arbeiten, dann würde er jemanden einstellen müssen, und das wäre viel teurer. Alles, was Tenley brauchte, war genug Geld für Essen, Kleidung und Futter für die Tiere.
Sie betrachtete die Skizzen, die über den ganzen Tisch verteilt waren. Es war eine bunte Mischung – alle möglichen Genres unter Verwendung ganz unterschiedlicher Materialien. Da gab es die Kohle-Tusche-Zeichnung eines Kolibris, eine Landschaft in Pastell, ein Aquarell-Selbstporträt. Tenley hatte nie eine Kunstschule besucht, hatte also keine Ahnung, worin sie besonders gut war.
Sie zog eine Dose mit schwarzen Filzstiften zu sich heran, holte tief Luft und begann eine Szene mit ihrer Heldin Cyd zu zeichnen, eine, die sich als Titelblatt eignen würde, weil sie die Stimmung der Romans besonders gut einfangen würde.
Der Charakter ihrer Titelheldin entsprach zu einem großen Teil ihrem eigenen. Sie war eine Außenseiterin, ein Mädchen, das in seinem Leben sehr viel Tragisches erlebt hatte, aber über außergewöhnliche Kräfte verfügte. Aufgrund dieser Kräfte befand sie sich ständig in einem moralischen Dilemma. Tenley fragte sich oft, wie es wohl wäre, wenn man die Vergangenheit ändern könnte.
Was für ein Leben würde sie führen, wenn sie damals nicht ihren Bruder herausgefordert hätte, zu der Insel hinauszusegeln? Oder wenn das Wetter nicht umgeschlagen wäre? Was, wenn sie zu Hause geblieben oder früher losgesegelt wären? Wo wäre sie dann heute?
Tenley schloss die Augen. Wäre sie jetzt glücklich verheiratet und hätte Kinder? Oder würde sie in einer Großstadt leben, als Künstlerin oder Autorin? Sie hatte sich immer vorgestellt, einmal Schauspielerin zu sein.
Vielleicht hätten ihre Eltern sich nicht getrennt, und vielleicht hätte ihre Großmutter keinen Schlaganfall bekommen. Vielleicht würden die Leute in der Stadt sie bewundern, anstatt sie zu bemitleiden. Tenley zerknüllte das Blatt und warf es auf den Boden.
Sie konnte die Vergangenheit nicht ändern. Und sie wollte die Zukunft nicht ändern.
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