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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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sich herumschleppte. »Jetzt ist ein
     kleiner Anruf fällig«, sagte sie und zog aus dem Beutel ihr Handy. Sie lächelte Jonas zu und Jonas’ Kehle wurde enger und
     enger.
    Das ging nicht, das konnte sie nicht machen …
    Vera drückte ein paar Knöpfe und hielt sich das Handy ans Ohr.
    »Hier ist Vera, kannst du mir mal Papa geben?« Pause, dann: »Ja, ich weiß, dass er weg ist, deswegen ruf ich ja an … Kannst
     du mir jetzt meinen Vater geben?!« Kein Zweifel, das war seine Mutter, mit der Vera gerade sprach. Jonas war fassungslos.
     Ohne mit der Wimper zu zucken, verpetzte Vera ihn ein zweites Mal! Jonas ballte die Fäuste. Hätte er sie doch nur in der stinkenden
     Brühe gelassen. »Hallo Papa«, sagte Vera jetzt. »Jonas und sein komischer Freund sind bei mir … Ja, wir sind zum Zelten an
     einen See rausgefahren. Wir kommen gerade aus dem Wasser.« Vera warf Jonas einen Blick zu. »Nein, geht nicht, der Akku ist
     gleich leer … Ja, ich sag’s ihm … Wir kommen am Nachmittag. Bis dann.«
    Sie drückte einen Knopf und ließ das Handy wieder |256| in dem schwarzen Stoffbeutel verschwinden. »Du sollst das nächste Mal verdammt noch mal anrufen, wenn du woanders schläfst«,
     sagte sie und zog eine Grimasse.
    »Danke …«, stammelte Jonas.
    Veras Augen wurden schmal. »Jetzt sind wir quitt.« Sie starrte auf den roten Boxhandschuh und die Aufschrift auf Jonas’ Sweatshirt.
     »Beat it!«, schrie sie plötzlich, packte ihren völlig verdreckten Stiefel und schleuderte ihn mitten in das Becken, wo er
     mit einem schmatzenden Geräusch versank. Jetzt nahm sie den sauberen Stiefel in die Hand. »Einer ist keiner, zwei sind mehr
     als einer!« Und sie schmiss den zweiten Stiefel hinterher.
    Jonas sah Vera so verdattert an, dass ihm der Mund offen stand.
    »Kannst du Schuheputzen vielleicht leiden?«, fuhr sie ihn an.
    Jonas starrte auf die Stelle, wo die Stiefel verschwunden waren, bückte sich, zog seine Schnürsenkel auf, riss sich die verhassten
     Schuhe von den Füßen und schmiss sie Veras Stiefeln hinterher. Ein kurzes Blubbern und weg waren sie! Nie mehr würde er mit
     roten Herzchen auf den Füßen herumlaufen.
    Vera begann zu lachen, Jonas fiel ein. Es war das erste Mal, dass sie zusammen lachten. Barfuß gingen sie auf das Tor zu,
     hinter dem der Festplatz liegen musste. Vera wurde immer langsamer und blieb zurück. »Der Tiger …« Sie blieb stehen.
    |257| »… ist uralt«, sagte Jonas. »Fast achtzig«, er zögerte, »und ein guter Mensch.« Er schob das Tor zur Seite und kniff die Augen
     zusammen.
    Die Sonne stand hoch am Himmel und schien ihm mitten ins Gesicht.

[ Menü ]
    |258| Die Farbe des Todes
    Vor Jonas breitete sich ein großartiges Durcheinander aus. Plastikbecher, Messingschalen, Essensreste, verkohlte Holzstücke,
     Flaschen, Jacken, Hemden, Hüte, alles lag kreuz und quer über den Platz verstreut. Vieles war grau von Asche. Asche, die von
     einer breitgetretenen Feuerstelle in der Mitte des Platzes stammte. Daneben lag etwas, das Jonas schaudern ließ: die zerrissenen
     und zerbissenen Reste eines Ochsenskeletts. Die Reste von Tante Tigers Nachtmahl.
    In dem ganzen Durcheinander standen ein paar Bürostühle und ein großes Sofa. Über die Sofalehne ragte ein Paar schwarzer Stiefel
     – Funakis. Sein mächtiger Bauch hob und senkte sich regelmäßig unter der blauen Latzhose. Schlief er? Jetzt, wo es gleich
     so weit war? Jonas sah auf die Uhr. Noch eine Stunde. Und wo steckte Lippe? Jonas entdecke ihn auf einem der Bürostühle. Neben
     ihm saß Igor. Beide hielten Weintrauben in der Hand und futterten vor sich hin. Hinter den beiden im Schatten des gegenüberliegenden
     Gebäudes saß Ulla auf seinem Schlitten. Er beugte sich über seine Hände, die irgendetwas knüpften oder flochten. Eine eigenartig
     friedliche Stimmung lag über dem Chaos.
    »Da hinten ist er«, flüsterte Vera. Die Panik in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
    |259| Jonas sah nach rechts. Tante Tiger saß ein Stück entfernt vor einem der großen kreisrunden Becken und schnupperte an den Farnwedeln.
     Jetzt, bei Licht, sah Jonas, dass die Flüssigkeit in den Becken dunkelbraun war und ständig Blasen warf.
    »Wir nennen sie Tante Tiger«, sagte Jonas. »Sie ist wirklich harmlos.«
    »Du spinnst doch.« Vera musste plötzlich gähnen.
    Auch Jonas spürte eine leichte Müdigkeit. Er rieb sich die Augen, ließ Vera zurück und ging auf Tante Tiger zu.
    Sie hob den Kopf aus dem Farn und blinzelte ihm

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