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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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Warum? Warum? Warum?«
    Da erfüllt auf einmal eine dröhnende Stimme die Dunkelheit: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« Es folgt ein grollendes
     Gelächter, das alles zittern und beben lässt. Jonas wird nach vorn geschleudert und rutscht durch die Dunkelheit, begleitet
     von dem Gelächter. Plötzlich sieht er wieder etwas. Schummriges grünes Licht. Jonas kriecht darauf zu, bis ihm zwei dicke
     Gitterstäbe den Weg versperren. Wieder ertönt die Stimme, jetzt allerdings hinter Jonas: »Mach dir keine Sorgen, ich bin ein
     Pflanzenfresser, Farne sind meine Leib- und Magenspeise.« Die Gitterstäbe klappten auseinander und Jonas erkennt, dass es
     vier mächtige Fangzähne sind, die jetzt in das Grün geschlagen werden. Jonas ist umgeben von Farnwedeln. Sie sind überall,
     kratzen ihn, kitzeln ihn und geraten in seinen Mund. Aber da fühlen sie sich gar nicht an wie Pflanzen, sondern wie Haare.
     Anmutige Frauenhaare, denkt Jonas, das müssen anmutige Frauenhaare sein und er kaut sachte darauf herum, sie schmecken süßlich
     und ein wenig nach Butter …
     
    »HILFE!«
    Jonas fuhr hoch. Sein eigener Schrei hatte ihn geweckt. Neben ihm lag Lippe und starrte ihn entsetzt an. Jonas hatte Haare
     im Mund. Lippes Haare! »Entschuldige«, keuchte er. Jonas war noch ganz benommen, klatschnass geschwitzt und erschöpft.
    |270| Lippe war ebenfalls verschwitzt und kreidebleich, sogar die sonst leuchtend roten Lippen waren blass. »Mensch, Nase, das war
     der schlimmste Traum, den ich je hatte. Ich war ein Schnitzel. Und ich hatte keine einzige Idee mehr, weil ich eben ein Schnitzel
     war. Mit aller Kraft wollte ich mir etwas einfallen lassen – normalerweise funktionieren meine Ideen nirgends so gut wie im
     Traum –, aber es ging nicht. Alles, was ich denken konnte, war: Werde ich gebraten oder roh gegessen? Sonst nichts. Und das
     Allerschlimmste war, ich konnte mich überhaupt nicht bewegen. Ich war ja ein Schnitzel ohne Arme und Beine. Ich hatte nicht
     mal einen Kopf, den ich hätte drehen können. Und auch keinen Mund, um zu schreien. Alles was ging, war, senkrecht nach oben
     schauen. Gleichzeitig wusste ich, dass jemand in der Nähe ist, der mich fressen will. Und dann kaust du plötzlich an mir herum!
     Kannst du dir vorstellen, wie fürchterlich das war?«
    »Ja«, sagte Jonas. »Ich hab nämlich geträumt, dass wir aufgefressen in dem Magen von Tante Tiger liegen.«
    »Hab ich es dir nicht gesagt? Irgendwann frisst sie uns. Wo ist sie eigentlich?«
    Sie sahen sich um.
    In der gegenüberliegenden Ecke, hinter den Bürostühlen, lagen Vera und Igor. Jonas konnte nicht erkennen, ob sie wach waren
     oder schliefen. Auf dem Sofa lag Funakis. Ansonsten sah der Platz zwischen den Gebäuden genauso aus wie vor dem Traum: ein
     mit Asche bestäubtes Schlachtfeld. Nur die Schatten |271| waren länger. Jonas warf einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. Es war drei Uhr nachmittags. Drei Stunden hatten sie
     geschlafen! Jonas war es vorgekommen, als wäre er nur kurz eingenickt. Der Sekundenzeiger auf der Uhr rückte gleichmäßig weiter
     … zuck – zuck – zuck … Das war beruhigend. Die Zeit war nicht stehengeblieben.
    »Der Schlittenfahrer und sein Schlitten sind auch weg«, unterbrach Lippe seine Gedanken. »Hier ist was faul, Nase. Riechst
     du’s nicht?« Er sprang auf und fuchtelte mit den Händen.
    Jonas sagte nichts. Er versuchte, sich zu erinnern: Tante Tiger hatte sich davongeschlichen und zwischen den Becken war die
     Alte aufgetaucht. Jonas warf einen Blick in die Richtung. Die vier Becken lagen ruhig in der brütenden Hitze; die Luft über
     dem geteerten Weg zwischen den Becken flimmerte. Dort hatten sich der Tiger und die alte Frau gegenübergestanden und dann
     war Tante Tiger gesprungen …
    »Ich hab was entdeckt«, rief Lippe. »Hier, zwischen den Abdrücken der Schlittenkufen.« Er hielt zwei grüne Schnüre in die
     Höhe. Jonas stand auf und ging zu ihm hinüber. Es waren aus Farn geflochtene Bänder, die Lippe gefunden hatte. Jedes so breit
     wie ein Finger und sie hatten sogar einen Verschluss aus einem hölzernen Knebel und einer geflochtenen Schlinge, sodass man
     sie um den Hals befestigen konnte. In der Mitte der Bänder war jeweils ein Buchstabe befestigt: ein N in dem einen Band, ein
     L in dem anderen. Sie waren aus dunklem, ölig glänzendem |272| Holz und die Buchstabenenden waren kleine hölzerne Tatzen.
    »N wie Nase und L wie Lippe«, sagte Lippe und gab

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