Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
Und gehen? Wir müssen zum Anwesen des laoye zurückkehren.“ Bao hatte ihre Augen aufgerissen. Schwarze Löcher in einem graufahlen Gesicht. Sie verbarg das Zittern ihrer Hände, doch Anna nahm es trotz ihrer eigenen Benommenheit wahr.
„Ist etwas mit Jiao?“ Suchend blickte sie sich um. Nicht einmal ein Fetzen ihres grün-weiß gemusterten Kleides war zu entdecken.
„ Taitai , schnell, wir müssen hier weg.“
Anna versuchte sich freizumachen, doch Bao war stärker als ihre zarte Erscheinung vermuten ließ.
„Wo ist Jiao? Ich gehe nicht ohne Jiao!“
„Bitte, taitai ! Jiao wurde entführt!“
Annas Gegenwehr erlahmte, und sie folgte Bao die Straße hinab. Umringt von drei Leibwächtern, eilten sie die Gassen entlang.
„Entführt, aber warum? Von wem? Bao, wer würde Jiao das antun?“
Bao warf Anna einen Blick zu. „Vielleicht wollten sie Euch entführen, taitai. Die Sänfte kippte auf die falsche Seite, Jiao lag oben. Sie haben einfach die Frau Zhuge Hu-Weis mitgenommen, die sie erwischten.“
Anna stolperte Bao hinterher, zu geschockt, um zu einer Reaktion fähig zu sein.
Sie erreichten das vornehme Schanghaier Anwesen, ohne dass Anna so recht wusste, wie. Long Tian und Christopher kamen ihnen in der Eingangshalle entgegen.
„Was ist passiert?“ Christopher stürmte auf Anna zu und umarmte sie fest.
Eisiger Schmerz durchzuckte sie, und sie keuchte. Er ließ sie sofort los und betrachtete sie aufmerksam.
„Einen Arzt, schnell, Long Tian!“
Anna wurde in ihr Privatgemach gebracht, Bao entkleidete sie, und dann war auch schon der Arzt da. Ein winziges, weißhaariges Männchen, das Anna im Stehen um einen Kopf überragen musste.
Christopher, Long Tian und Bao standen in der entferntesten Ecke des Zimmers und unterhielten sich flüsternd, sodass Anna nichts verstehen konnte. Doch Christopher hatte seine Augen ununterbrochen auf Anna gerichtet und beobachtete jeden Handgriff des Arztes.
Als der Mediziner von Anna abließ, waren alle Schürfwunden versorgt und die verstauchte Schulter bandagiert. Der Arzt verbeugte sich respektvoll und unterhielt sich mit Christopher auf Chinesisch.
Christopher nickte erleichtert und verabschiedete sich mit einer Verbeugung.
Anna setzte sich auf, und sofort war Christopher bei ihr. Sein schwarzes Haar, sonst immer eine Fülle akkurat gekämmter, schimmernder Seide, war zerzaust. Die Sorge in seinen Augen machte Anna Angst.
„Was ist mit Jiao? Wo ist sie?“
Christopher nahm ihre Hand, und erst jetzt merkte sie, wie kalt ihre Haut war. Sie drückte zu, als könne ihr dies Halt und Sicherheit geben.
„Wie fühlst du dich? Hast du starke Schmerzen?“
Anna presste ihre Zähne aufeinander. „Beantworte meine Fragen!“, verlangte sie, und zum ersten Mal seit dem Überfall spürte sie ihren inneren Aufruhr.
„Es ist nur ein Verdacht, aber sie ist vermutlich von einer Verbrecherbande entführt worden.“
Tränen stiegen in Anna hoch. „Aber warum? Sie hat doch niemandem etwas getan!“ Die Sorge schnürte ihr die Kehle zu. Rau und kalt strömte die Atemluft in ihren Körper. Ihr Herz fühlte sich wie ein übergroßer, deplatzierter Lehmklumpen in ihrer Brust an.
Die süße Jiao! Was mochte sie in diesem Augenblick durchstehen? Ganz allein in der Gewalt brutaler Verbrecher!
Die Stunden verstrichen quälend langsam. Da Anna sich geweigert hatte, im Bett zu liegen wie eine Müßiggängerin, trugen die Diener sie hinunter. Sie saß im Innenhof im Schatten, die Schriftrolle von Jiao im Schoß, und wartete, dass etwas, irgendetwas passierte.
Christopher hatte Long Tian und einen weiteren vertrauenswürdigen Diener davongeschickt und war bei den Frauen zurückgeblieben.
Die Konkubinen umringten Anna, und selbst Chun wirkte besorgt. Keine von ihnen sprach, Chun spielte auf ihrer Pipa, und ihre Finger sausten nur so über die Saiten. Bao schenkte reihum Tee ein und zog sich diskret zurück.
Anna warf Christopher immer wieder forschende Blicke zu. Sie fragte sich, ob er mehr wusste, als er zugab, und wenn dem so war, was hinter der Entführung stecken mochte.
Plötzlich war ein leises Plumpsen zu vernehmen, ein Geräusch, als kullere ein Gegenstand über die Dachplatten, und dann fiel ein schmuddeliges, blutdurchtränktes Paket auf den Boden. Die Konkubinen kreischten. Chun ließ sogar ihre heiß geliebte Pipa fallen, während He Xien und Lian sich aneinanderklammerten.
Christopher stieß einen barschen Befehl aus, dann sah er zu Anna: „Sieh
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