Timeline: Eine Reise in die Mitte der Zeit
mittelalterliche Stadt Sarlat war abends besonders bezaubernd, wenn Gaslaternen die dichtstehenden Häuser und die schmalen Gassen sanft erleuchteten. Marek und die Doktoranden saßen in einem Straßenrestaurant an der Rue Tourny unter weißen Schirmen und begrüßten mit dem dunkelroten Wein von Cahors die Nacht.
Normalerweise genoß Chris diese Abende, doch heute paßte ihm einfach nichts. Der Abend war zu warm, sein Metallstuhl unbequem. Er hatte sein Lieblingsgericht bestellt, pintade aux cepes, aber das Perlhuhn war trocken gewesen und die Steinpilze geschmacklos. Sogar die Unterhaltung nervte ihn: Normalerweise redeten die Doktoranden über die Arbeit des Tages, aber an diesem Tag hatte ihre junge Architektin, Kate Erickson, einige Freunde aus New York getroffen, zwei amerikanische Paare Ende Zwanzig — Börsenmakler mit ihren Freundinnen. Chris fand sie von Anfang an unsympathisch.
Die Männer standen dauernd vom Tisch auf, um mit ihren Handys zu telefonieren. Die Frauen waren beide Managerinnen in derselben PR-Firma; sie hatten gerade eine sehr große Party für Martha Stewarts neues Buch organisiert. Das wichtigtuerische Gehabe dieser Gruppe ging Chris ziemlich schnell auf die Nerven; und wie viele erfolgreiche Geschäftsleute neigten sie dazu, Akademiker zu behandeln, als wären sie leicht zurückgeblieben, unfähig, in der wirklichen Welt zu funktionieren und die wirklich wichtigen Spiele zu spielen. Oder vielleicht, dachte er, fanden sie es einfach unverständlich, daß jemand einen Beruf wählte, der ihn nicht bereits mit vierundzwanzig zum Millionär machte.
Andererseits mußte er zugeben, daß sie durchaus freundlich waren; sie tranken viel Wein und stellten eine Menge Fragen über das Projekt. Leider waren es die üblichen Fragen, die auch Touristen immer stellen: Was, ist so besonders an diesem Ort? Woher wissen Sie, wo Sie graben müssen? Woher wissen Sie, nach was Sie suchen müssen? Wie tief graben Sie, und woher wissen Sie, wo Sie aufhören müssen?
»Warum arbeitet ihr gerade hier? Was ist eigentlich so besonders an diesem Ort?« fragte eine der Frauen eben.
»Der Ort ist sehr typisch für die Zeit«, antwortete Kate, »mit den beiden gegenüberliegenden Burgen. Was die Anlage aber zu einem echten Fundstück macht, ist die Tatsache, daß sie von der Forschung vernachlässigt war, daß hier noch nie Ausgrabungen stattgefunden haben.«
»Und das ist gut? Daß sie vernachlässigt war?« Die Frau runzelte die Stirn; sie kam aus einer Welt, in der Vernachlässigung schlecht war.
»Sogar äußerst erstrebenswert«, sagte Marek. »Bei unserer Arbeit ergeben sich Gelegenheiten nur, wenn die Welt einen Ort links liegenläßt. Wie Sarlat zum Beispiel. Dieses Städtchen.«
»Es ist sehr nett hier«, sagte eine der Frauen. Die Männer verließen den Tisch, um zu telefonieren.
»Aber das Wesentliche ist etwas anderes«, sagte Kate. »Es ist nämlich ein Zufall, daß diese Stadt überhaupt existiert. Ursprünglich war Sarlat eine Siedlung, die um ein Kloster herum entstanden ist, das Reliquien beherbergte; nach einer Weile wurde die Stadt so groß, daß das Kloster auszog, um sich woanders Ruhe und Frieden zu suchen. Sarlat existierte weiter als wohlhabendes Marktzentrum für die Dordogne-Region. Aber im Lauf der Jahre schwand die Bedeutung der Stadt, und im zwanzigsten Jahrhundert verlor man Sarlat aus den Augen. Der Ort war so unbedeutend und arm, daß er kein Geld hatte, um die alten Stadtteile zu sanieren. Die alten Gebäude blieben einfach stehen, so wie sie waren, ohne moderne Installationen und Elektrizität. Viele davon waren verlassen.«
Kate erklärte weiter, daß in den fünfziger Jahren die Stadtverwaltung schließlich beschlossen habe, die alten Viertel abzureißen und neue Häuser zu errichten. »André Malraux hat das verhindert. Er überzeugte die französische Regierung, Geld für eine Restaurierung zur Verfügung zu stellen. Die Leute hielten ihn für verrückt. Aber heute ist Sarlat die am exaktesten restaurierte mittelalterliche Stadt Frankreichs, und eine der größten Touristenattraktionen des Landes.«
»Es ist hübsch«, erwiderte die Frau unbestimmt. Plötzlich kehrten die beiden Männer gemeinsam wieder an den Tisch zurück, setzten sich und steckten ihre Handys in die Tasche. Ihrer Miene nach zu urteilen, waren sie mit dem Telefonieren fertig.
»Was ist passiert?« fragte Kate.
»Die Märkte sind geschlossen«, erklärte einer. »So. Was habt ihr über Castelgard
Weitere Kostenlose Bücher