Timoken und der Trank der Unsterblichkeit
nicht einmal ein Hexenmeister das Leben nehmen.
Die netten Worte der Jungen und ihr Mitgefühl brachten Beri wieder zum Weinen. Ihre Schultern begannen zu beben und ein Tränenschwall ergoss sich über ihre Wangen und tropfte auf ihre vom Kampf verschmutzte Tunika.
Timoken wusste nicht, was er tun sollte. Der Anblick ihrer Tränen zerriss ihm das Herz und er musste die Augen schließen. In der Sprache des verborgenen Königreichs bat er den Himmel, Beri zu zeigen, dass die Welt trotz aller Trauer noch immer wunderschön war.
Nach einem Moment des Schweigens spürte er eine leichte Berührung an der Schulter.
„Schau, es regnet“, sagte Edern. „Obwohl die Sonne scheint.“
Timoken öffnete die Augen. Tatsächlich! Regentropfen fielen vom Himmel und funkelten im Sonnenlicht. Sie tropften auf die Kletterpflanzen an den Mauern des Hofes, bis jedes Blatt einen kleinen glänzenden Diamanten zu tragen schien. Sie fielen in Beris Schoß und kullerten wie Perlen über ihre Zehen, die aus ihren Sandalen hervorschauten. Und mit einem Mal begannen die Rosen wieder zu blühen und wohlriechende Blütenblätter, so zart wie Seide, entfalteten sich hinter ihrem Kopf.
Als Beri ihren Duft einatmete, lächelte sie plötzlich. „Ich kenne diesen Ort“, sagte sie.
„Du kennst ihn?“, fragte Timoken.
„Mein Vater kam einst mit mir hierher, um mir eine Puppe zu kaufen.“
„Wo ist die Werkstatt des Spielzeugbauers, Beri?“, fragte Timoken aufgeregt.
Sie deutete zu einem Gewölbe, das sich in einer Ecke des Hofes befand.
Timoken rannte dorthin. Niemand folgte ihm. Er entdeckte eine Treppe, die zu einem bogenförmigen Eingang führte. Als er sich umdrehte, sah er, wie seine Freunde ihn mit ernsten und betroffenen Mienen musterten.
Die Treppe war steil und Timokens Beine zitterten, als er die Stufen hinabstieg. Er sehnte sich danach, seine Schwester wiederzusehen, doch er fürchtete sich auch davor, denn er wusste nicht, was ihn erwartete, wenn er den Arbeitsraum am Ende der Stufen betrat.
Er holte tief Luft und zwang sich, die letzten Stufen hinunterzugehen. Als er durch die Eingangstür spähte, sah er einen Raum voller Spielzeuge. Das Sonnenlicht fiel schräg durch das Fenster und ließ die bunten Farben der hölzernen Puppen und Tiere erstrahlen. Eine Frau lag auf einer Bank am anderen Ende der Werkstatt. Timoken ging auf sie zu und stieg dabei vorsichtig über die teilweise zerstörten Spielzeuge.
Zobayda lag mit über der Brust verschränkten Händen da. Timoken wusste, dass seine Schwester jetzt alt war, aber sie sah überhaupt nicht alt aus. Ihr Haar war noch immer schwarz und ihre Wangen zeigten keinerlei Falten. Ihre Augen waren zwar geschlossen, aber sie wirkte nicht, als wäre sie tot. Behutsam legte er sein Ohr an ihre Brust. Ein schwaches Geräusch wie ein leises Wispern war zu hören. Doch Zobaydas Augen blieben geschlossen und ihre Hände lagen reglos da.
„Du bist nicht tot, Zobayda!“, rief Timoken. „Ich weiß es. Ich kann dein Herz schlagen hören. Mehr als einhundert Jahre hast du jede Nacht unter dem Netz der letzten Mondspinne gelegen. Selbst der Zauberbann eines Hexenmeisters kann das nicht ungeschehen machen.“
Er zog sich den Mantel von den Schultern und legte ihn behutsam über seine Schwester. „Öffne die Augen, Zobayda“, beschwor er sie. „Du lebst!“
Zobaydas Lippen bebten und sie seufzte tief. Ihre Lider zuckten und schließlich öffnete sie die Augen. „Timoken!“, rief sie voller Freude und setzte sich auf.
Das goldene Schloss
Als Timoken und Zobayda in den Hof traten, wurden sie mit großem Jubel begrüßt. Die Briten drängten sich um sie und einer nach dem anderen wurde Zobayda vorgestellt. Schließlich entdeckte sie Beri, die ganz allein auf der Steinbank saß.
„Und wer ist das?“, fragte sie.
„Ein tapferes Mädchen aus Toledo“, antwortete Timoken.
„Ich habe dich irgendwo schon einmal gesehen“, sagte Zobayda an Beri gewandt.
„Das stimmt.“ Beri erhob sich. „Mein Vater hat mich vor Jahren einmal hierher mitgenomme n … damit ich mir eine Puppe aussuche.“
„Dein Vate r …“ Zobayda runzelte die Stirn. Jetzt wusste sie, wer das Mädchen war. „Es tut mir so lei d …“
„Ja, es ist Esteban Díaz.“ Beri verschränkte die Hände ineinander. „Ich freue mich über Eur e … Genesung“, sagte sie an Zobayda gewandt, „aber ich kann leider nicht in den allgemeinen Jubel einstimmen.“ Ihr Blick wanderte über die Briten und ruhte
Weitere Kostenlose Bücher