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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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bin es holen gegangen, Papa», sagte er,«das Pfand des alten Salomon. Dein Hochzeitsgeschenk. Marietta ist da, sieh nur!»Aber ich konnte sie nicht wiedersehen. Sie wird in dieses Haus nicht mehr zurückkehren.
    Marco kniete sich ans Bettende und vergrub sein Gesicht in den Laken. Zusammen mit ihm war der salzige Geruch der Lagune ins Zimmer gedrungen. Er muss auf der Insel geschlafen haben, im Freien, zwischen Sträuchern oder unter einem Baum. Als Junge tat er dies häufig. Nach einem Streit oder einer seiner Schurkereien verschwand er. Wenn er zurückkam, haftete genau dieser Geruch an ihm - nach salzigem Schlamm, brackigem Wasser, zersetzter Erde.
    Giovanni entdeckte eines Tages sein Versteck, denn Marco verzog sich immer an dieselbe Stelle: an die hinterste und verlassenste Ecke der Lagune, hinter Torcello. Dort gibt es eine Insel, die je nach Gezeitenstand auftaucht oder verschwindet. Bei Ebbe tritt sie vollständig an die Oberfläche - dann ist sie eine Art Sandscheibe, aus deren Mitte, umringt von Meeresbinsen, eine Steineiche emporragt. Dieser krüppelige Baum mit Schirmkrone erinnert an den Baum aus dem Psalm - immerdar von Blättern geschmückt, wird er zur rechten Zeit seine Frucht bringen, und alles, was in seinem Schatten wächst, wird gut gelingen. Bei Flut ist alles überschwemmt, und aus der Lagune schaut lediglich seine Krone hervor - wie Arme recken sich seine Äste zum Himmel. Zwischen den immergrünen Blättern finden Vögel auf dem Weg
in andere Gefilde einen Rastplatz. So erkennt man den Baum auch von Weitem. Er sieht aus, als schwebte er ohne Wurzeln zwischen Himmel und Wasser.
    Marco erreichte die Insel schwimmend von Torcello aus, Giovanni dagegen ruderte jeweils so lange auf seinem Boot, bis er kein Gefühl mehr in den Händen hatte. Angekommen sprang er in den Sand, zog das Boot an den kleinen Strand und forderte seinen Bruder auf, mit nach Hause zu kommen, da der Sturm sich gelegt habe und ihm auch dieses Mal verziehen werde. Doch Marco schüttelte jedes Mal den Kopf, er zog sich Schuhe, Strümpfe und die restliche Kleidung aus und aalte sich im Schatten des Baums, um dann - nackig - so weit ins Wasser zu gehen, bis es ihm bis an den Hals reichte. Vielleicht wollte er sich von sich selbst reinigen, sich oder uns vergessen. Mal war Sommer und das Wasser warm und schleimig wie Brühe - mal war Herbst und das Wasser schneidend kalt. Dieses aberwitzige Ritual hatte etwas Unwiderstehliches, denn auch der jüngere Bruder übernahm schließlich diesen Brauch. So hielten meine Söhne die Luft an und tauchten unter Wasser, wo sie sich vergaßen und im Strom treiben ließen, bis aus ihren Mündern, vom Licht angezogen, kleine Luftblasen nach oben stiegen. Doch am Ende gaben auch sie der Anziehungskraft nach und kehrten nach Hause zurück.
    Marietta hatte mir davon erzählt, da sie - nachdem sie von der Existenz dieser Insel und den seltsamen Abstechern ihrer Brüder erfahren hatte - auch dahin wollte. Selbst als Marco schon nicht mehr vor seinen ärgsten Fehltritten dorthin flüchtete, stieg sie zu Giovanni auf das Boot. Nachmittags, wenn die Sonne am höchsten stand, brachen sie auf, und mal war die Insel da, mal nicht - dann kehrten sie ohne anzuhalten wieder um. Wenn sie aber da war, schlüpften sie aus ihren Schuhen, Strümpfen und Kleidern und sprangen ins Wasser. Obwohl es ein Geheimnis meiner Kinder bleiben sollte, erzählte mir Marietta von der Insel.«Ihr geht nackt baden?», fragte ich sie ungläubig.«Das Wasser ist bereits eine Art
Kleidungsstück», erwiderte sie.«Kann euch jemand sehen?», fragte ich besorgt.«Nein, das ist doch nicht der Lido, niemand kommt in diese Gegend, um sich die Zeit zu vertreiben, auf der Höhe fährt allenfalls hin und wieder ein Fischerboot vorbei.»«Und können die dich sehen?»«Nein, ich sage denen, sie sollen sich umdrehen und die Augen schließen.»«Und wer sagt dir, dass sie das auch wirklich tun», bohrte ich nach.«Ich weiß es eben», entgegnete sie selbstsicher.«Und was macht ihr dann so?»«Nichts, wir ziehen uns unter den Baum in den Schatten zurück, bis uns das Wasser fast in den Mund schwappt. Dann halten wir die Luft an und lassen uns untertauchen. Wenn wir wieder auftauchen, ist für einen Moment die Sonne am Himmel nicht mehr zu sehen, dafür scheint die Lagune vollständig aus Gold zu sein, als wollte sie alles Licht in sich aufsaugen, dann verliert sie auf einmal jegliche Farbe und wird trüb und dunkel. Wenn du aber unter Wasser

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