Tintorettos Engel
Jacometto trug ein Leibchen aus durchsichtigem Musselin. Sie drückte ihn an ihre Brust und versuchte, ihn zu stillen. Trotz des geöffneten Fensters lag ein
beißender Geruch in der Luft, und ich musste meine aufsteigende Übelkeit unterdrücken. Ich ekelte mich vor diesem fahlen, übel riechenden Bündel, doch ich beugte mich über Marietta und streichelte ihm übers Haar. Es war rostbraun und ganz fein, eine Krone kleiner Löckchen rahmte seine Stirn ein.«Er ist tot, Marietta. Sei vernünftig, du musst ihn gehen lassen.»
«Würdest du das tun?», fragte meine Tochter und hob kaum merklich den Kopf. Ihre Augen waren trocken. Erst viele Tage später konnte Marietta den Tod ihres Sohnes beweinen. Die Lippen meines Enkels waren schwarz. Wie versiegelt pressten sie sich an ihre Brust.«Nein, du hättest ihn niemals gehen lassen», murmelte Marietta.«Glaubst du, ich hätte vergessen, dass du mich nicht hast sterben lassen? Ich habe ihn nicht genug geliebt.»
Ich kann nicht weinen, Herr. Du hast mir nicht gezeigt, wie man sich von seinem Schmerz erlösen kann. Ich kann ihn einfach nur erdulden. Ich bin ein in nutzloser Beharrlichkeit von Wellen behauener Fels. Die Gezeiten schleifen mich, entreißen mir aus meinen Hohlräumen die Fische, Krabben, Seeigel und stacheligen und empfindlichen Wesen, die bei mir Unterschlupf finden - von der Stelle aber bekommen sie mich nicht. Nach dem Sturm stehe ich am Ende leer und verlassen immer noch da. Sie aber sind weg, weil ich sie nicht behütet habe. Ich ließ meine Tochter einfach reden, da die Worte in jener Nacht wahrscheinlich ausgesprochen werden mussten, um anschließend vergessen zu werden.
Der Himmel glich einer Petroleumlache, als ich sie bat, mir das Kind zu geben. So könne sie sich wenigstens ein bisschen ausruhen. Seit vierzehn Tagen habe sie nicht mehr geschlafen, sicher sei sie völlig erschöpft.«Ich kann nicht schlafen», flüsterte sie,«ich schaffe es nicht.»Ich reichte ihr das Glas mit dem aufgelösten Mohnpulver. Fest drückte ich es an ihre Lippen. Marietta leerte es ohne Widerworte. Dann trocknete sie Jacometto die Stirn und legte ihn mir behutsam in den Arm. Er war schwer wie ein Stein.
Ich schloss seine Augen, die noch immer geöffnet waren.«Nun schlaf», sagte ich zu dem Kleinen und zu meiner Tochter. Marietta schloss die Augen und ließ sich auf das Kissen fallen. Bis zum Morgengrauen blieb ich bei ihnen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als wir ihn auf dem Friedhof von Carpenedo beerdigten. Marietta schlief noch immer.
Am darauffolgenden Tag fuhr Steiner nach Deutschland. In Augsburg lebten noch ein paar Verwandte, die er nun für seine Familie hielt. Am Vorabend seiner Reise blieb er zusammen mit Dominico bis spät in die Nacht auf. Da der Himmel klar und wolkenlos war, wollten sich die beiden Freunde Sternschnuppen ansehen. Der Juwelier erzählte, dass ihm die Flugbahn der Sternschnuppen in der Laurentiusnacht den Weg zu seiner Frau gewiesen habe. Denn die Menschen seien wie die Sterne - einige fix, andere streiften und irrten umher, genau wie Marietta. Dominico versuchte, ihn von der Reise abzubringen. Der Juwelier aber meinte, er müsse ihr die Zeit geben, das Geschehene zu verarbeiten. Er wolle sich ihr nicht aufzwingen, denn Marietta wolle nichts mehr von ihm sehen oder hören. Sie werfe ihm nichts vor, sie wolle nur einfach nicht mehr mit ihm leben, was er, Marco Augusta, respektiere. Immer hat er ihren Willen respektiert, allerdings bin ich mir bis heute nicht sicher, ob diese edle, verständnisvolle Art ein Zeichen von tiefer Liebe oder Gleichgültigkeit war. Er vertraute sie mir an und lief davon. Ich hatte dafür Verständnis. Etwas anderes hätte er nicht tun können, und vielleicht hoffte er, mit seiner Abwesenheit das zu erreichen, was er in elf Jahren Geduld und Anwesenheit nicht geschafft hatte. Marco Augusta trieben immer schon philosophische Gedanken um, und er pflegte zu sagen, dass bei Raufereien zwischen Liebenden der gewinnt, der sich beugt, und bei Schwierigkeiten in der Liebe der am meisten bekommt, der am meisten erträgt. Ich weiß nicht, ob er eine weise Entscheidung traf. Allerdings hinderte ich ihn daran, seine Entscheidung rückgängig
zu machen. Ich habe sie ihm weggeholt. Nie hat Marco Augusta sie wieder gesehen.
Mein Sohn und mein Schwiegersohn verschwanden in jener Nacht in der finsteren Natur. Bis die Sterne wieder untergingen, blieben sie fort, um den Tierkreis, die Planeten und die zwölf
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