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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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ich es war, der sie am Ende der Tempelstufen erwartete.
    Der Orgelmeister wollte ein Konzert für sie geben: Es kamen Violinisten, Blockflöten-, Schalmei-, Lauten- und Drehorgelspieler. Sie spielten ihre Lieblingsstücke. Epheben mit so klarer und reiner Stimme wie ihre sangen Veni, dilecta mea und Tota pulchra es amica mea . Die wenigen, die sie kannten, und die vielen, die
von ihr gehört hatten, gaben ihr das letzte Geleit. Es waren so viele, dass nicht alle in die Kirche passten und etliche draußen auf dem Vorplatz in der Sonne stehen mussten. Wir ließen das Portal während des Gottesdienstes offen, damit alle folgen konnten. Die Cölestiner, die mir in meinen letzten Lebensjahren zum Freund und Vertrauten geworden sind, zelebrierten zwar die Messe, doch im Lauf der Predigt schweifte ich mit meinen Gedanken ab. Nicht dort, wo sie glauben, erwartet sie mich, sondern in mir, wo niemand ihr etwas antun kann. Ich werde sie behüten, Schimpf und Schande von ihr fernhalten und kein Vergessen zulassen. Ich werde ihrer gedenken und sie lebendig halten, denn solange ich lebe und möglicherweise darüber hinaus, wird auch sie weiterleben. In meinem Innern spürte ich noch immer die Schwingungen des Sees von Mantua, den Fluss, das Meer, die Lagune, die gegen den Rumpf schwappenden Wellen und die keuchend aufkommende Flut. Selbst als der Grabdeckel aufgelegt wurde, war sie noch in mir, und auch das Geräusch, während die Marmorplatte auf dem Eisenzylinder entlangglitt und dann dumpf auf der Erde aufschlug und das Grab verschloss, berührte mich nicht. Als aber die Kirche sich geleert hatte und alles zu Ende war, war alles andere so unsagbar stumpf und sinnlos - aus und vorbei.
     
    «Mach die Augen zu, Jacomo», flüsterte sie. Ihre Stimme holte mich aus meiner Trägheit zurück. Da merkte ich, dass es dämmerte und die Sonne wie eine glühende Münze auf dem Wasser trieb. Wer weiß, ob wirklich die Sonne der Mittelpunkt der Welt ist. Ob nicht Millionen von Sonnen und Millionen von Welten existieren. Ob wir nichts weiter als die winzig kleine Welt einer winzig kleinen Welt sind, so unbedeutend für das Universum wie eine Ameise auf einem Baum oder ein Sandkorn auf dem Meeresgrund. Und doch eine vollkommene Welt, neben der jede andere verblasst. Vielleicht haben wir gerade wegen unserer Bedeutungslosigkeit die Unendlichkeit verdient. Venedig war weit weg, nur
noch ein von Adern durchzogenes Geflecht auf der Lagune - ich konnte es nicht erkennen, als wäre es nicht mehr da, wo es immer gewesen ist.
    «Jetzt schließ die Augen», sagte Marietta und fasste meine Hand. Ihre war kalt wie Schnee. Ich klammerte meine Finger um ihr Handgelenk. Es war so schmal wie das, als sie noch ein Kind war oder ihre letzten Tage in Mantua erlebte. Ich folgte ihr über den Sand, bis ich mit den Knöcheln im Wasser stand. Meine Angst war verflogen. Ich vertraute mich ihr an und klammerte mich mit all meiner Kraft an ihre Hand.
    «Au! », stieß Marco hervor - der sich, auf dem Boden kauernd und wie eine Katze an mich geschmiegt, nicht von der Stelle gerührt hatte -,«du tust mir weh, Papa! Seht nur, mit welch übermenschlicher Kraft er mich festhält. Vielleicht will er uns damit etwas sagen.»«O nein», rief Faustina,«geh nicht, Jacomo, ohne dich schaffen wir es nicht, ich bitte dich, mein Liebster, lass uns nicht allein, bleib hier.»
    Ich begann zu zittern. Es fröstelte mich am ganzen Körper. Das Wasser war noch kälter als Mariettas Hand. Es umspülte Knie, Hüften, Magen, Schultern, Hals. Ich ließ mich von ihr in den dunklen Schatten des Baums führen, bis das Wasser an meinen Lippen kitzelte. Es schmeckte nach Algen, Erde und Salz. Dann verloren meine Zehen den Kontakt zum Sand. Klein, wie sie war, musste sie schon längst den Boden unter ihren Füßen verloren haben. Ich wunderte mich, wie sie sich über Wasser halten konnte. Aber wenn Sichtreibenlassen wie Fliegen ist, wenn sie tatsächlich mein Engel ist, dann ist sie auch dazu fähig. Marietta hielt mich fest an der Hand. Da ich Angst hatte, dass die Strömung uns auseinanderriss, zog ich sie zu mir heran und legte meinen Arm um ihre Hüfte - ihren weichen, festen Körper zu spüren beruhigte mich wieder und versicherte mir, dass sie wirklich bei mir war und das Ganze tatsächlich geschah.«Wir tauchen jetzt unter», sagte sie.«Halte die Luft an.»

    Ich wurde sonderbar ungeduldig. Ich wollte endlich sehen, wie die Flut auf Venedig zuströmte, der Sand aufwirbelte und die

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