Tintorettos Engel
Exitus
Es ist dunkel geworden. Der Vorhänge sind zugezogen, jemand muss die Kerzen angesteckt haben, da es nach Wachs und Rauch riecht, bis zu mir gelangt jedoch nicht der kleinste Schimmer. Die Finsternis hat meinen Leib verschlungen, ich weiß, dass ich liege, aber ich finde nicht zu mir, ich fühle meine Hand, doch ich spüre sie nicht. Ich bin verloren. Solltest du hier irgendwo sein, ich sehe dich nicht. Jemand hält sich zwar im Zimmer auf, ich kann seine Bewegungen wahrnehmen, selbst die Schwingungen seiner Seele - doch ich weiß, du bist es nicht. Hörst du mich? Du bist es, an den ich mich wende. Ich rief nach dir, und nun rufe ich dich wieder. Komm her, ich will nicht nur mit mir selbst reden.
Ich kann nicht schlafen. Vierzehn Tage ist es her, dass mich der Schlaf das letzte Mal mitgenommen und in das Land geführt hat, in dem alles Verlorene gegenwärtig, alles Zukünftige schon geschehen ist. Erst habe ich aufgehört zu träumen, ich fiel in meine Nächte wie ein Stein in einen Brunnen ohne Grund - dann habe ich aufgehört zu schlafen. Alles Erlebte flackert in der Dunkelheit auf. Und dennoch starre ich in eine entsetzliche Leere, in die alles hineingesogen wird. Alles erlischt - nur ich liege hier gefesselt, allein mit den Erinnerungen, die nur ich kenne und mitnehmen werde.
Es heißt, die Medikamente seien wirkungslos geblieben und die Aderlässe hätten mir die letzte Kraft geraubt. Die Kräuter konnten die quälenden Schmerzen in meinem Magen nicht lindern, das Fieber ist gestiegen und der Schlaf nicht zurückgekehrt. Der Priester muss noch in der Nähe sein. Weihrauch vermischt sich
mit dem Duft von Kiefernharz, Aloe und Myrrhe, das in den Fackeln verbrennt. Nun ist es spät, mit niemandem werde ich mehr sprechen, außer mit dir.
Da du mir nicht die Zeit gelassen hast zu sagen, was ich sagen muss, werde ich dir diese Zeit stehlen. Bevor alles wie Asche verweht, werde ich dir all meine Sünden aufzählen, und du wirst überrascht sein, wie viele ich begangen habe. Ich meine aber nicht jene, die du dir vorstellst. O ja, ich bin arrogant gewesen, überheblich, ungestüm, ein Lügner, fanatisch, ungerecht, unredlich, voller Neid. Ich war unmoralisch, sinnlich, verzweifelt. Ich kenne die erhebende Banalität des Fleisches wie auch die beschwerliche Schönheit des Geistes. Ich werde von Eitelkeit erzählen, von Ehrgeiz und Selbstsucht, von Versuchung, Verrohung und Groll. Doch meine schwerste Sünde ist eine andere.
Ich erhebe keinen Anspruch, verstanden zu werden, ein jeder von uns ist ein Rätsel. Das Geheimnis meiner Taten, meiner Laster und Tugenden behalte ich für mich. Ich will mich weder rechtfertigen noch losgesprochen werden - dies wäre unmöglich, denn gelebt zu haben ist bereits eine unverzeihliche Sünde. Ich möchte mich lediglich erinnern - und durch die Erinnerung leben und wieder lebendig werden. Ich werde dir nichts verschweigen - wie ich auch mir nichts verschweigen werde. Das Recht, über mich zu richten, hast du immer schon gehabt. Ich habe an dich geglaubt. Ich habe mich sowohl als verschwindend kleines Etwas als auch als dein Ebenbild verstanden, als winziges, bedeutungsloses und gemeines Staubkörnchen sowie als freier Herr des Universums. Ich habe deine Gaben empfangen und dir meine dargeboten. Du weißt, was ich dafür erbeten habe. Ich habe mich an unsere Abmachung gehalten, du hast sie nicht erfüllt. Und noch vermag ich nicht zu beurteilen, ob dein Schweigen Zeugnis deines Verrats oder deiner Anteilnahme ist.
Hilf mir, Klarheit zu schaffen, denn alles ist so verworren - es herrscht keine Ordnung mehr in diesem Getümmel. Alles Wichtige
erscheint mir unwesentlich, alles Unwesentliche bedeutungsvoll. Die Erinnerungen geraten durcheinander, weil mein Gedächtnis so arbeitet, wie ich es einst getan habe. Es stampft, rattert und berichtigt unentwegt, erfindet, verbessert, sodass ich nicht mehr weiß, was ich tatsächlich getan und was ich hätte tun sollen, was mir gesagt und was verschwiegen wurde, was gewesen ist und was nie geschehen wird - aber zumindest hat die Zeit am Ende alles begrenzt und zusammengefügt. Der Schlüssel der wahrheitsgetreuen Erinnerungen ist irgendwo abhanden gekommen, und ich kann ihn nicht wiederfinden.
Wie viele nur in mein Zimmer getreten sind! Sie haben das Fenster geöffnet, unbekannte Stimmen vermischen sich mit den mir vertrauten. Unten auf den Kähnen ist Markt - die Rufe der Obsthändler und das Geschwätz der Mägde dringen zu mir
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