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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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weißem Atlas zur Verfügung. Den weißen Stoff hatte ich ihr zuliebe ausgewählt. Die Arbeiter stellten den Sarg in den Schatten und entzündeten an jeder Seite des Kahns Duftfackeln - in denen Harz, Aloe, Weihrauch und Myrrhe verbrannten. Dann setzte ich mich auf das Heck, und die Bootsmänner überließen uns der Strömung.
    Der Fluss führte uns nach Venedig. Wasser hat es nie eilig - irgendeine Richtung findet es immer. Ich dagegen bin stets durchs Leben gerannt, als wäre eine Feuersbrunst hinter mir her, dieses Mal aber entdeckte ich die Gunst der Langsamkeit - es waren die letzten Momente, die ich an ihrer Seite verbrachte. Die Strömung wiegte mich in eine sanfte Benommenheit, die mich daran hinderte, klare Gedanken zu fassen, der grausamen Wirklichkeit in
die Augen zu sehen, mir bewusst zu werden, dass alles zu Ende war und dass in dieser Holztruhe im Schatten des Baldachins meine geliebte Tochter lag. Das glitzernde Wasser, die schaukelnden Wellen sowie der im Sonnenuntergang aus dem Fluss aufsteigende Dunst waren mir wohlvertraut. Wir fuhren durch eine überaus friedliche Landschaft, Herr. Das im Wind rauschende, flaumige Schilfgras, die Ruderboote der Fischer, die über dem Strom hängenden Fischreusen, die am Rand der Dörfer mit hochgeschlagenen Röcken bis zu den Knien im Wasser stehenden Waschfrauen, die mit Holz, Seide und Gewürzen beladenen Kähne, die in die Lombardei und die abgelegensten Winkel Europas fuhren, die großen, grün-silbrigen Weiden am Ufer - all das liebte sie so sehr, dass ich es für sie anschaute. Ich machte mir erst auf diesem Kahn bewusst, dass sich Marietta sechsunddreißig Jahre lang alles nur für mich angeschaut hatte. Sie hat es geliebt, weil ich es liebte, etwas Erhabeneres gibt es nicht.
    Die Reise dauerte drei Tage. Da ich sie nicht allein lassen wollte, schlief ich nachts auf Deck. Der Mincio führte uns zum Po und der Po nach Ferrara, wo wir im Delta den Fluss verließen. Der Kahn drang in das Labyrinth aus Kanälen vor und schlängelte sich durch ein weitverzweigtes Wassergeflecht, das sich wie Venen im menschlichen Körper in der Ebene ausbreitete. Die Vegetation war so dicht, dass selbst der Horizont grün schimmerte. Weder Frachtkähne noch Fischer kamen uns mehr entgegen. Wir waren allein mit den Vögeln und den Ochsen, die uns am Ufer in gemächlicher Geduld zur Mündung der Etsch schleppten. Doch, Herr, ich empfand keine Trauer. Ich war über alle Maßen erfüllt. Ich beschaute mir alles - für sie - und wusste, dass Marietta auf ewig bei mir war. Ich wusste, dass sie ihr Leben lang auf diese Weise gelebt hat, und das konnte mir keiner nehmen. Du hast sie getötet, aber nicht gewonnen. Du hattest keine Macht mehr über mich. Ich war dir entkommen. Ich saß mit Strohhut in der Sommersonne auf dem Heck und sog den Harzduft, der für immer und ewig zu uns
gehören wird, in mich auf, schaute mir das Ufer, die Sandstrände, die mäandrierenden Flussläufe mit den Schwänen an, atmete die herannahende, salzige Meeresluft ein und war glücklich.
    In Chioggia stiegen wir auf ein anderes Boot um, das uns mit der Flut bis nach Venedig brachte - die große Welle war Venedigs Elixier und Odem, sie versorgte die Kanäle mit neuem Leben und nahm auf dem Rückweg allen Abfall und alles Unnütze wieder mit. Ebbe und Flut begleiteten mich mein gesamtes Leben hindurch, das sie am Ende wieder an sich nehmen werden - sie stehen für Überfluss und Mangel, Anfang und Ende des Tages -, jetzt sind sie meine Luft zum Atmen und das letzte Geräusch, das mir noch bleibt. Die Lagune war ruhig und windstill. Begleitet vom Glockengeläut des Arsenals, das einen neuen Tag ankündigte, bogen wir im Morgengrauen in den Canal Grande ein. Flackernd, tänzelnd und taumelnd wachte meine Stadt wie ihr Spiegelbild aus dem nächtlichen Nebel auf und erschien in der blauen Morgenstunde nicht wirklicher als eine Erinnerung. Erst als uns die Flut vor der Haustür absetzte, hörte sie auf zu steigen. Noch am selben Tag beerdigte ich sie.
    Die Familiengruft in Madonna dell’Orto liegt unterhalb der großen Orgel: Wenn niemand spielt und die Flügel zugeklappt sind, sieht es so aus, als stiege meine kleine Maria tatsächlich zaghaft, aber ohne Zaudern und Bangen, vom Kirchenboden die fünfzehn Stufen der eindrucksvollen Treppe ans oberste Ende hinauf, wohin sie jemand zu ihrem Schicksal der Auserwählung und Einsamkeit gerufen hat. Dieser Jemand warst aber nicht du, Herr. Allein Marietta weiß, dass

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