Titan 06
Draußen war das nicht mehr so einfach möglich. Nur der Hundert-Stundenmeilen-Streifen war stehengeblieben; kaum sieben Meter entfernt raste der nächste Streifen mit seinen unverminderten fünfundneunzig Meilen pro Stunde vorbei. Die Passagiere darauf waren nur als verwischte, schattenhafte Figuren erkennbar.
Als die Panne eintrat, war der sieben Meter breite Gehsteig des Höchstgeschwindigkeitsstreifens schon dicht mit Menschen besetzt gewesen. Nun kamen auch noch die Kunden von Geschäften, Imbißläden, Fernsehbars und Leseräumen herausgeströmt, um nachzusehen, was passiert war. Das erste Unglück geschah beinahe sofort.
Die Menge drängte sich vor und stieß eine Frau mittleren Alters, die ganz außen stand, über den Rand. Als sie versuchte, ihr Gleichgewicht wieder zu erringen, geriet sie mit einem Fuß auf den vorbeisausenden Fünfundneunzig-Stundenmeilen-Streifen. Sie begriff die entsetzliche Gefahr, denn sie schrie, bevor ihr Fuß noch das Band berührte.
Sie wurde herumgeschleudert und stürzte schwer, kollerte dann weiter, als der Rollstreifen ihrem Körper mit einem Schlag eine Geschwindigkeit von fünfundneunzig Meilen pro Stunde – oder mehr als vierzig Meter pro Sekunde – beizubringen versuchte. Im Weiterrollen mähte sie etliche der verwischten Gestalten nieder, wie eine Sichel die Grasbüschel. Sie kam rasch außer Sicht, ihr Name, ihre Verletzungen, ihr Schicksal blieben unbestimmt und waren bald etwas, das nicht mehr wichtig und weit entfernt war.
Die Folgen ihres Unfalls aber setzten sich noch lange fort. Eine der undeutlichen Gestalten, die durch ihre Relativbewegung umgerissen worden waren, fiel herüber auf den Hundert-Meilen-Streifen, prallte in der vor Entsetzen starren Menge auf und war plötzlich als blutender, schwer verletzter Mann erkennbar, der wie durch ein Wunder überlebt hatte – im Gegensatz zu den Unglücklichen, deren Körper seinen furchtbaren Fall aufgefangen hatten.
Auch damit war es noch nicht zu Ende. Die Katastrophe pflanzte sich von ihrem Ausgangspunkt immer weiter fort, und jeder der unglücklichen menschlichen Kegel riß mit großer Wahrscheinlichkeit andere um, so daß noch viele über den gefährlichen Rand geschleudert wurden, wo sie um einen schrecklichen Preis zur Ruhe kamen.
Das Zentrum des Unglücks rollte jedoch rasch davon, und bald hatte Blekinsop es aus den Augen verloren. Sein reger Geist jedoch, der daran gewöhnt war, mit großen Zahlen menschlicher Wesen zu rechnen, multiplizierte die Opfer dieser einen Unfallfolge, die er mitangesehen hatte, mit den zwölfhundert Meilen des dichtbesetzten Transportbandes, und in seinem Magen machte sich ein eisiges Gefühl bemerkbar.
Zu Blekinsops Erstaunen unternahm Gaines nichts, um den Gestürzten zu helfen oder die erschrockene Menge zu beruhigen, sondern kehrte mit ausdruckslosem Gesicht ins Restaurant zurück. Als Blekinsop sah, daß er wirklich draußen nichts mehr zu tun gedachte, zupfte er an Gaines’ Ärmel. »Hören Sie, sollten wir diesen armen Leuten nicht beistehen?«
Die steinerne Miene des Mannes, der ihm antwortete, hatte nichts mehr gemein mit dem freundlichen, beinahe jungenhaften Gastgeber vor wenigen Minuten früher. »Nein. Die Umstehenden können ihnen helfen. Ich muß mich um die ganze Straße kümmern. Lassen Sie mich in Ruhe.«
Niedergeschmettert und ziemlich indigniert tat der Politiker, was ihm befohlen wurde. Nüchterne Überlegung sagte ihm, daß der Chefingenieur recht hatte – ein Mann, der für die Sicherheit von Millionen verantwortlich ist, darf sich nicht von seiner Pflicht abhalten lassen, um sich mit einzelnen zu beschäftigen – aber die Kaltherzigkeit einer solchen Handlungsweise stieß ihn ab.
Gaines eilte durch das Restaurant. »Mrs. McCoy, wo ist Ihr Notausstieg?«
»In der Küche, Sir.«
Gaines hastete in die Küche, Blekinsop auf den Fersen. Ein erschrockener Filipino-Salatkoch wich hastig zurück, als Gaines eine Ladung vorbereiteten Grünzeugs auf den Boden fegte und seelenruhig auf den Tisch kletterte. Unmittelbar darüber und in bequemer Reichweite war eine kreisförmige Luke mit Gegengewicht, die mit einem Handrad zu öffnen war. Eine kurze Stahlleiter, mit einem Scharnier am Lukenrand angebracht, konnte von der Decke heruntergeklappt und mit einem Haken gesichert werden.
Blekinsop verlor seinen Hut in dem Bemühen, Gaines rasch genug über die Leiter nachzuklettern. Als er auf das Dach des Gebäudes gelangte, suchte Gaines schon die Decke des
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