Titan 5
wußte er, daß jenes Licht hinter dem Schleier sich seiner nicht bewußt, sondern nur für die beiden Mikhtschah-Priester empfänglich war, die betend knieten.
All das beanspruchte nur einen so kleinen Teil seines Geistes, daß er ihn überhaupt nicht ausmachen konnte; doch mit der Gesamtheit seines Bewußtseins umfing er Raum und Zeit und das, was keines von beiden war, nur nicht die Gegenwart, die ein Begriff sein mußte, welchen der eine vor ihm noch nicht gelöst hatte.
Er sah einen fremden Mann auf einem niedrigen Berg stehen und Steintafeln empfangen, die kaum mehr als eine Münze wogen und mit Schriftzeichen bedeckt waren, die alle lesen konnten. Und er kannte den Mann, weigerte sich aber, es zu glauben, denn die Kleider waren nicht jene seines Vorstellungsbilds, und das scharfgeschnittene Gesicht paßte besser zu der fremden Kopfbedeckung als zu der Sprache, die der Mann sprach.
Er sah jedes Gebet seines Lebens auf Tafeln geschrieben; aber nirgendwo war der Mantel göttlicher Wärme, den er als Kind gefühlt und erst an diesem Morgen beinahe wieder wärmend gefühlt hatte. Und der Gedanke erregte Unbehagen, vermischt mit Zorn; doch während der Gedanke in ihm war, war er unangreifbar.
Jede dieser Empfindungen und Vorstellungen war ebenso unwahr wie wahr, denn er fand kein Verstehen dessen, das wahr war.
Es endete so unvermittelt wie es begonnen hatte, entweder eine Mikrosekunde oder eine Million subjektiver Jahre danach. Es ließ ihn betäubt, aber neu belebt zurück. Und es ließ ihn so hoffnungslos tot zurück, wie noch nie zuvor ein Mensch tot gewesen war.
Er wußte nur, daß er vor dem Herrn, dem allmächtigen Gott stand, demselben, der einen Vertrag mit Abraham, mit Isaak und Jakob und ihrem Geschlecht geschlossen hatte. Und er verstand, daß der Vertrag nicht mehr galt. Gott hatte die Menschheit verworfen und sich auf die Seite der Feinde von Abrahams Geschlecht gestellt, der Feinde aller Völker auf Erden.
Amos hörte, wie Doktor Miller neben ihm wieder zu atmen begann, sich das weiße Haar aus der Stirn wischte und verwundert ein einziges Wort murmelte: »Gott!«
Einer der Mikhtschah-Priester hob den Kopf und blickte suchend umher; in seinen Augen war etwas wie Trance, aber es verlor sich schnell.
Plötzlich begann Smithton zu schreien. Ein langgezogenes, verrücktes Kreischen brach von seinen Lippen, während seine Lunge keuchend ein- und ausatmete. Mit stierem Blick wankte er steif wie eine Holzpuppe geradeaus, durch den Vorhang und auf das Licht hinter dem Schleier zu. Die Lichterscheinung verschwand plötzlich, aber Smithton wankte kreischend weiter, brach vor dem Schrein in die Knie, und der Schrei brach ab.
Der Doktor und Amos standen starr vor Schreck an die Wand gepreßt, spähten durch die Vorhangspalte und wagten sich nicht von der Stelle zu rühren. Amos wußte, daß sie keine Zeit zu verlieren hatten, und die Tür zur Sakristei war nur wenige Schritte entfernt, aber er war unfähig, sich zu bewegen.
Smithton erhob sich nach unerwartet kurzer Zeit, beschrieb eine taumelnde Kehrtwendung und ging mechanisch auf die zwei Priester zu. Sein Gesicht war starr und ausdruckslos, aber es war das Gesicht eines Wahnsinnigen, und die Priester fühlten es; sie machten ihm Platz, ohne die offensichtlich erbeuteten automatischen Pistolen zu gebrauchen, die sie in den Händen hielten. Smithton ging hölzern zwischen ihnen durch, als sähe er sie nicht, ging weiter durch den Mittelgang und zum offenen Kirchenportal hinaus.
Er erreichte die Stufen vor dem Eingang, während die beiden Priester ihm nachstarrten. Steif wie eine Gliederpuppe ging er die Stufen hinunter und stand auf dem Gehsteig. Einer der Priester brachte die Pistole in Anschlag und feuerte durch die Türöffnung.
Smithton zuckte zusammen, schwankte und begann plötzlich mit normal klingender Stimme zu fluchen und Schmerzensschreie auszustoßen. Er versuchte fortzulaufen und taumelte mit langsamer werdenden Bewegungen auf die Straße hinaus und zur anderen Seite, doch man sah, daß er sich nicht mehr lange würde auf den Beinen halten können. Die Zielsicherheit der Mikhtschah war unglaublich und hatte auch diesmal nicht versagt. Smithton war bereits tot, obgleich er sich noch bewegte, wenn auch immer langsamer, als ob sich ein letzter Rest von Lebenskraft wie die Spannung in einer entleerten Batterie erschöpfte.
Die Priester tauschten Blicke aus und eilten ihm nach in die Dunkelheit.
»Los!« murmelte Amos, heiser vor
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