Tochter der Finsternis: Die Chroniken des Magnus Bane (04) (German Edition)
Jungen war so weiß und rein, dass es schien, als würde sie von innen erleuchtet. Seine Wangenknochen, seine Kinnpartie und sein Hals – der hinter dem offen stehenden Kragen eines Leinenhemds zum Vorschein kam – waren so glatt und makellos, dass er beinahe wie eine Statue aussah. Diesen Eindruck machte allerdings sein stark zerzaustes Haar zunichte, das ihm in mitternachtsschwarzen Locken ins fast durchscheinend helle Gesicht fiel.
Magnus wurde in der Zeit zurückgeworfen. Um ihn herum stiegen der Nebel und die Lichter der Gaslaternen eines Londons auf, das seit mehr als zwanzig Jahren vergangen war, und drohten, ihn zu verschlingen. Er spürte, wie seine Lippen einen Namen formten: Will. Will Herondale.
Unwillkürlich trat Magnus vor, wie von einer fremden Macht gesteuert.
Der junge Mann sah ihn an und Magnus erschrak. Das waren nicht Wills Augen, die in Magnus’ Erinnerung so blau waren wie der Nachthimmel in der Hölle und die er schon voller Verzweiflung, aber auch voller Zärtlichkeit gesehen hatte.
Die Augen dieses Jungen funkelten so golden wie ein Kristallglas, das, bis zum Rand mit einem spritzigen Weißwein gefüllt, gegen das Licht der flammenden Sommersonne gehalten wurde. War seine Haut leuchtend, so waren seine Augen wie Feuer. Magnus konnte sich diese Augen nicht als zärtlich vorstellen. Der Junge war wirklich bezaubernd, aber er war auf eine Weise schön, wie es Helena von Troja einst gewesen sein musste. Eine solche Schönheit bedeutete Verderben. Beim Anblick des Jungen erschienen brennende Städte vor Magnus’ innerem Auge.
Der Nebel und das Licht der Gaslaternen schrumpften zu der Erinnerung zusammen, die sie waren. Magnus’ vorübergehender Anfall von dümmlicher Nostalgie war überstanden. Das war nicht Will. Dieser gebrochene, wunderschöne Junge war längst ein Mann und der Junge vor ihm nur ein Fremder.
Trotzdem war sich Magnus sicher, dass diese bemerkenswerte Ähnlichkeit kein Zufall sein konnte. Mühelos bahnte er sich einen Weg bis zu dem Jungen, denn die restlichen Besucher dieser Spielhölle schienen nicht sonderlich erpicht, sich ihm zu nähern – was durchaus nachvollziehbar war. Der junge Mann stand allein in der Mitte des Raumes wie eine Insel in einem glitzernden Meer aus Glasscherben.
»Nicht gerade eine typische Waffe für einen Schattenjäger«, bemerkte Magnus leise. »Oder?«
Die goldenen Augen verengten sich zu leuchtenden Schlitzen und die langen Finger der Hand ohne Pistole wanderten zum Ärmel des Jungen, wo sich, wie Magnus vermutete, die am leichtesten zu erreichende Klinge verbarg. Dabei zitterten seine Hände allerdings leicht.
»Immer mit der Ruhe«, fuhr Magnus fort. »Ich will dir nichts Böses. Ich bin ein Hexenmeister und die Whitelaws in New York werden dir gerne bestätigen, dass ich vollkommen – na gut, weitestgehend – harmlos bin.«
Darauf folgte eine lange Pause, die sich irgendwie bedrohlich anfühlte. Die Augen des Jungen waren wie Sterne: Sie funkelten, blieben aber geheimnisvoll und unergründlich. Magnus konnte andere Leute normalerweise recht gut einschätzen, aber diesmal hatte er große Schwierigkeiten zu erahnen, was der Junge wohl als Nächstes tun würde.
Dementsprechend überrascht war er über dessen Antwort.
»Ich weiß, wer Sie sind.« Im Gegensatz zu seinem Gesicht hatte seine Stimme etwas Sanftes.
Magnus gelang es, seine Verblüffung zu verbergen. Stattdessen hob er nur stumm die Augenbrauen, um eine gewisse Skepsis zum Ausdruck zu bringen. In den dreihundert Jahren seines Lebens hatte er genügend Zeit gehabt zu lernen, nicht jeden Köder zu schlucken, den man ihm vor die Nase hielt.
»Sie sind Magnus Bane.«
Magnus zögerte kurz, dann neigte er den Kopf. »Und du bist?«
»Ich«, verkündete der Junge, »bin James Herondale.«
»Weißt du«, murmelte Magnus, »ich dachte mir schon so etwas in der Art. Freut mich zu hören, dass ich so berühmt bin.«
»Sie sind der Hexenmeisterfreund meines Vaters. Er hat meiner Schwester und mir oft von Ihnen erzählt, insbesondere wenn andere Schattenjäger in unserer Gegenwart herablassend über Schattenweltler gesprochen haben. Er sagte dann immer, er würde einen Hexenmeister kennen, der ein besserer und vertrauenswürdigerer Freund sei als viele der Nephilimkrieger.«
Das vertraute er ihm mit einem Grinsen und einem ironischen Tonfall an. Er wirkte allerdings weniger amüsiert als verächtlich, so als halte er seinen Vater für einen Narren, weil er ihm dies erzählt
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