Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
bei ihr die Krebserkrankung festgestellt hatte. Aber das war erst der Anfang gewesen.
Und jetzt wartete sie auf ihre Tochter. Sie hatte oft gewartet, aber noch nie so schmerzlich. Es gab so viel zu sagen, und sie hatte nur noch so wenig Zeit. Sie war so müde. So unendlich müde.
Sie lag in einem Zimmer im siebten Stock. Als es ihr noch besser ging – ehe sie zu schwach zum Sitzen gewesen war –, hatte sie viel Zeit am Fenster verbracht und den weiten Blick über die Stadt genossen – ein wochenlanges Abschiednehmen. Wie viele Jahre hatte sie hier, in diesem Krankenhaus, verbracht? Fünfzehn. Zuerst in der Küche und nun, ihre letzten Wochen, sterbend, in einem Krankenzimmer.
Ihr Blick wurde immer wieder von dem Schatten auf der anderen Seite des Raumes angezogen. Er war seit Tagen dort und wartete. Sie hatte mit ihm gesprochen, ihn gefragt, ob er sie mitnehmen wolle. Die anderen Patienten, alle todkrank wie sie, hatten Angst bekommen. Sie hatten ihr Beruhigungs- und Schlaftabletten gegeben, weil sie mit nicht vorhandenen Personen sprach. Camilla verzog halb ironisch, halb schmerzlich das Gesicht. Sie hatte weiterhin mit ihm geredet. Das hatte ihr immerhin dieses Einzelzimmer eingebracht.
Und sie sprach auch jetzt wieder. Mit dem Schatten in der Ecke. Er war es, auch wenn er nicht antwortete, sondern nur still in seiner Ecke blieb und wartete. Er würde nicht mehr viel Geduld aufbringen müssen – ihre Zeit war bald gekommen.
Sie hörte die Schritte ihrer Tochter. Alle ihre Sinne hatten nachgelassen, aber Camilla glaubte sie schon zu hören, wenn sie aus dem Lift stieg. Sie fühlte sie. Jetzt kam sie näher und wartete vor der Tür. Sie musste wohl Mut fassen. Armes Kind. Es war nicht leicht zu sterben, und es war für Gabriella nicht leicht, sie gehen zu lassen. Sie hatten immer nur einander gehabt. Vielleicht zu sehr? Hätte sie ihre Tochter nicht viel früher loslassen müssen? Sie konnte sie ohnehin nicht vor ihm oder den anderen beschützen. Im Gegensatz zu Gabriella sah sie diese Dämonen ja nicht einmal.
Sie öffnete die Augen, als die Tür aufging.
Gabriella trat auf Zehenspitzen herein, beugte sich über sie und küsste sie auf die Wange. »Du siehst gut aus. Es geht dir besser, nicht?«
»Ja, viel besser.« Es war die übliche Lüge zwischen ihnen. Sie wussten es beide und lächelten verlegen.
Sie sah ihrer Tochter zu, wie sie herumzukramen begann, ihre Sachen ordnete. Sie würde sie sehr bald abholen und heimnehmen müssen. Camillas Herz krampfte sich vor Mitleid zusammen.
Draußen brach die Dämmerung über die Stadt herein und drängte die Schatten aus den Zimmerecken in die Mitte. Sie sah Gabriella zu, wie sie die weißen Socken zusammenrollte, die sie getragen hatte, als sie noch hatte aufstehen können. Ihre Hausschuhe standen unter dem Bett, aber Camilla wusste, dass sie sie nie wieder benutzen würde.
Sie hatte so lange Zeit alles still beobachtet, dass Gabriella zusammenzuckte, als sie sprach. Italienisch. Die Sprache ihrer Kindheit und Jugend. Es fiel ihr leichter, und es war so wichtig, mit Gabriella zu sprechen, sie hatte schon lange genug gezögert. Nun war die letzte Gelegenheit, eine weitere würde der Tod – oder sein Schatten – ihr nicht mehr lassen.
»Gabriella. Ich muss dir etwas sagen.«
»Ja?« Gabriella hockte sich neben sie auf das Bett.
Camilla sah sie eindringlich an. »Über deinen Vater. Er ist nicht tot.« Sie atmete tief durch und zwang sich, nicht in die Ecke zu sehen, als sie weitersprach. Fast fürchtete sie, er könnte sie daran hindern. »Ich frage mich, ob er überhaupt sterben kann.« Sie quälte sich durch jedes Wort. »Diese Männer, die du siehst, seit du ein Kind warst – sie gehören zu ihm. Er ist wie sie.«
Gabriella starrte sie ohne zu blinzeln an.
»Ich habe ihn kennengelernt«, sprach Camilla jetzt mit ruhiger Stimme weiter, »als ich ein Praktikum machte. Er stand plötzlich vor mir, als wäre er aus dem Boden gewachsen. Als ich begriff, dass etwas nicht mit ihm stimmte, war ich schon mit dir schwanger …« Sie legte mit einem zärtlichen Lächeln ihre Hand auf den Bauch, als würde sie ihre noch ungeborene Tochter dort fühlen.
Sie rang sich mühsam die folgenden Worte ab. Ihre Stimme wurde immer leiser. »Er ist einer jener Todesengel. Jener Männer, die ich nicht sehen kann, du aber schon.«
Es fiel Gabriella schwer, ihre Mutter nicht entsetzt anzusehen. Fantasierte sie? Hatte man sie deshalb in ein Einzelzimmer verlegt?
Ein
Weitere Kostenlose Bücher