Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
sobald sie das Schlafzimmer und den bis zum Boden reichenden Ankleidespiegel verließ, schlüpfte sie eilig in ihre flachen Sandalen oder die bequemen Sportschuhe.
Dieses Mal war ihre Mutter jedoch nicht von den eleganten Auslagen der teuren Schuhgeschäfte angezogen worden, sondern von einem Geschäft, das mit billigen Sportschuhen für Kinder warb. Gabriella bemerkte das Stirnrunzeln ihrer Mutter, den Seitenblick auf Gabriellas Füße, und bewegte die Zehen, die schon wieder vorne anstießen. Sie war stolz darauf, dass sie im Moment recht schnell wuchs. Nicht mehr lange und sie würde ihrer Mutter bis zur Schulter reichen, und dann fehlten nur noch ein paar Jahre und Zentimeter, und sie war ganz erwachsen.
Als ihre Mutter keine Anstalten machte, weiterzugehen, sondern den Blick sehnsüchtig zu den teuren, eleganten Damenschuhen wandern ließ, trat Gabriella ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und suchte nach interessanteren Objekten. Sie beobachtete einige Touristen, eine Katze, die sich schläfrig auf einer kleinen Mauer streckte, und legte schließlich den Kopf in den Nacken und sah hinauf. Von ihrem Platz aus konnte sie die Spitze des Campanile erkennen. Ihre Mutter und sie waren im Vorjahr mit dem Aufzug zur Glockenstube hochgefahren, um Venedig von oben zu betrachten, aber die kleine Gabriella war beim Hinunterschauen fast panisch geworden, und ihre Mutter hatte sie bald wieder auf den sicheren Boden des Markusplatzes gebracht. Gabriella nagte an ihrer Unterlippe. Jetzt hätte sie vielleicht keine Angst mehr. Jetzt war sie schon acht Jahre alt, nun gut, genau genommen sieben Jahre und sechs Monate, und bestimmt mutiger als damals.
Sie wandte den Blick ab und sah sich um, als wieder eine Gänsehaut über ihren Rücken und ihre Arme kroch und die feinen Härchen sich aufstellten. Das Gefühl war jenem auf dem Turm sehr ähnlich: das Bewusstsein, völlig hilflos nur einen Schritt von der Vernichtung entfernt zu stehen. Es war aber auf dem Turm nicht die schwindelnde Höhe gewesen, sondern die Vorstellung, der Boden könne ihr plötzlich unter den Füßen weggezogen werden, der Turm einfach unter ihr verschwinden und sie viele Meter tief hinabstürzen. Sie schauderte und griff unwillkürlich nach der Hand ihrer Mutter.
Camilla sah auf sie hinab. »Was ist denn?«
Gabriella sah sich ängstlich um. Das Gefühl, das gleiche wie damals, auf dem Campanile, verstärkte sich. Als würde sie jeden Moment aus schwindelnder Höhe fallen. Oder vielmehr, als würde sich unter ihr die Erde auftun und endlose Tiefe und Dunkelheit sie verschlingen. Sie schauderte abermals.
Ihre Mutter blickte ebenfalls um sich. Sie war blass geworden. »Sind sie es? Sind sie wieder da? Siehst du einen von ihnen?«
Gabriella drängte sich an sie. Sie konnte keinen dieser Männer, die außer ihr kein anderer wahrzunehmen schien, sehen. Aber sie spürte etwas. Hass, Tod, auch wenn sie ihnen im Moment keinen Namen zu geben vermochte.
Ihre Mutter schüttelte sie leicht. Sie hatte sich zu ihr heruntergebeugt, und ihre grünen Augen waren weit aufgerissen. »Wo sind sie, Gabriella? Wo?«
Gabriella hob die Schultern. Das Gefühl kam von überall her. Auf dem kleinen Platz waren jedoch nur harmlose Touristen und einige alte Männer zu sehen, die sich an einem alten Brunnen versammelt hatten und lebhaft gestikulierten und lachten.
»Ist es nur einer?«
Gabriella schüttelte stumm den Kopf. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
»Wir müssen nach Hause. Schnell.« Ihre Mutter packte sie an der Hand und zog sie mit sich. Sie lief mit, im Schatten ihrer Mutter, die teils höflich, teils energisch die Leute vor ihnen zur Seite drängte. Sie waren nicht weit von daheim, wenn man nach der Luftlinie rechnete, aber Venedigs verschlungene Gassen, die oft in Kanälen oder in einem Hinterhof endeten, ließen kein schnelles Fortkommen zu. Sie mussten einen Umweg machen, um zu der Brücke zu gelangen, die über das jenseits des Canal Grande gelegene Viertel führte.
Gabriella spürte, wie die Bedrohung hinter ihr zunahm. Ihre Mutter drängte sich rücksichtslos durch eine Horde lärmender Touristen. Einer von ihnen, ein stämmig gebauter Mann in Jeans und mit kariertem Hemd, stieß gegen Gabriella. Sie stolperte, entglitt dem Griff ihrer Mutter und wäre gefallen, hätte der Mann sie nicht aufgefangen. Er sagte etwas halb Amüsiertes, halb Verärgertes, und dann wurde Gabriella zur Seite geschoben. Ein ganzer Schwarm Menschen drängte sich an ihr
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