Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
Zorn, und sie war zutiefst erschrocken, als dieser Graue die Frau mit sich genommen hatte; aber sie hatte nicht die geringste Furcht vor ihm verspürt.
Sie zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück, als plötzlich wieder Leben in Camilla kam und sie aufsprang. Sie glaubte, ihre Mutter würde sie packen, aber diese stürzte ins Schlafzimmer, zerrte den Koffer unter dem Bett hervor und warf ihn auf das Bett. Sie drehte sich nicht nach Gabriella um, als sie sagte: »Such zusammen, was du mitnehmen willst. Wir können nicht alles einpacken. Nur deine Lieblingssachen.«
Gabriella kam unsicher näher und blieb in der Tür stehen. »Warum denn?«
Ihre Mutter antwortete nicht. »Es war einer von ihnen … einer von ihnen …«, sagte sie immer wieder. »Aber er bekommt dich nicht.«
Über Gabriellas Rücken krochen Angstschauer. Und zugleich war sie neugierig. »Wer denn? Wer bekommt mich nicht?«
»Such deine Sachen zusammen«, erwiderte ihre Mutter mit gepresster Stimme. Gabriella sah, dass ihr Tränen über die Wangen liefen, als sie Wäsche in den Koffer warf.
Gabriella stand an der Tür ohne sich zu rühren. »Ich glaube nicht, dass er uns gesucht hat«, wagte sie einzuwenden. Sie fühlte sich so schuldig, dass ihr schlecht war. Warum nur war sie durch diesen Mann hindurchgelaufen? Und warum hatte sie ihn danach angesehen, anstatt wegzurennen? Um ihre Mundwinkel zuckte es, ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie wollte nicht von hier weg. Es gefiel ihr in Venedig. Sie hatte Freunde, mit denen sie einfach so durch die Stadt streunen durfte – solange sie nicht in Kanäle fielen, – was natürlich schon vorgekommen war. Sie ging hier zur Schule, und in den beiden Jahren hatte sie nicht nur die Sprache gelernt, sondern sich auch diesen weichen venezianischen Akzent angewöhnt, sodass sie sich kaum von den anderen Kindern unterschied. Ihre Mutter war hier geboren und aufgewachsen. Sie hatte einmal sogar erwähnt, dass sie hier auch Gabriellas Vater kennengelernt hätte. Der jetzt allerdings schon lange tot war. Gabriella vermisste ihn nicht. Er war, wie Mutter einmal sagte, kurz nach ihrer Geburt gestorben, bei einem Autounfall in Mailand.
Ihre Mutter machte eine ungeduldige Handbewegung. Sie zitterte am ganzen Leib. Die Wäsche fiel ihr aus der Hand. Sie wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Leg dein Lieblingsspielzeug zurecht, damit ich es in die Koffer packen kann.«
»Es tut mir so leid«, begann Gabriella zu schluchzen. »Ich wollte das nicht. Ich wollte auch nicht durch ihn hindurchlaufen. Aber er stand einfach so da, und da war die Frau und griff nach mir, und ich lief los. Und ich wollte ausweichen. Aber er machte einen Schritt zur Seite. Und dann …« Sie heulte los.
Ihre Mutter warf den Pulli, den sie in ihrer Hand hielt, auf das Bett und kam zu Gabriella. Sie zog sie zum Bett, dann auf ihre Knie, und schließlich durfte Gabriella, den Kopf an Camillas Hals geschmiegt, weiterschluchzen, während ihre Mutter sie tröstend in den Armen wiegte und leise und zärtlich auf sie einsprach.
»Du kannst ja nichts dafür, mein Liebling. Niemand kann etwas dafür. Höchstens ich, weil ich mich in den falschen Mann verliebt habe.« Die Stimme ihrer Mutter war nicht mehr als ein Flüstern, und Gabriella verstand die Worte kaum. »Aber ich war so glücklich mit ihm.« Camilla sprach mehr zu sich selbst. »So unendlich glücklich. Ich wusste ja nicht …« Sie seufzte, dann legte sie ihre Wange auf den Kopf ihrer Tochter und hielt sie fest an sich gedrückt. »Nein, niemand hat Schuld«, hauchte sie. »Niemand.«
Camilla ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Über die neuen Vorhänge, die liebevoll ausgesuchte, wenn auch billige Einrichtung. Venedig war ihre Heimat. Sie war so froh gewesen, als sie hergezogen war, und so sicher, hier ruhig leben zu können. Sie hatte es sich gemütlicher eingerichtet als in ihren früheren Stationen, weil sie hier hatte bleiben wollen. Zumindest für einige Jahre.
Damit war es jetzt, nach gerade zwei Jahren, vorbei.
***
Camilla hatte Karten für den Nachtzug nach München gekauft, und sie saßen in einem Abteil zweiter Klasse, eng aneinandergedrängt, als müssten sie sich gegenseitig Schutz geben. Der kleine Koffer lag sicher verstaut im Gepäcknetz. Der größere, den Camilla nicht hatte hinaufstemmen können, stand neben ihnen, und Gabriella hatte die Füße darauf gelegt.
In München kannten sie niemanden, aber Camilla fand überall schnell Arbeit.
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