Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
Adligen Zuflucht gefunden, die man nach dem Viertel Barnabotti nannte. Und auch Camilla hatte gehofft, hier untertauchen und neu anfangen zu können. Hier hatte sie sich anonym und sicher gewähnt.
Einmal links, dann rechts, dann wieder links, und sie befanden sich in einem Wirrwarr alter Gässchen. Endlich hatten sie das Wohnhaus erreicht. Camilla verharrte, blickte sich noch einmal um, sah jedoch keinen Verfolger. Dennoch trat sie nicht ein. Sie zog Gabriella mit dem Rücken an sich und legte die Hände auf ihre Schultern. »Sieh dich um. Siehst du einen?«
Gabriella blickte links und rechts die Straße entlang. Sie war leer. Sie schüttelte den Kopf. Camilla stieß die nur angelehnte Eingangstür auf und zerrte Gabriella hinter sich hinein in den Gang. Der vertraute Geruch von abgestandener Luft, Essensausdünstungen und feuchten Mauern hüllte sie ein, als sie die Treppe emporliefen, über ausgetretene Stufen, über die schon Generationen von Venezianern vor ihnen auf und ab gegangen waren. Sie blieben vor ihrer Wohnungstür stehen, und Gabriella tastete gewohnheitsmäßig über die tiefen, schriftartigen Kratzer in dem alten Holz. Sie faszinierten sie. Manchmal glaubte sie sogar, es wären geheimnisvolle Botschaften längst dahingegangener Bewohner dieses Hauses. Dieses Mal ließ ihre Mutter ihr jedoch keine Zeit, die Spuren mit den Fingerspitzen nachzuzeichnen, sie drängte sie zur Seite. Ihre Hand zitterte, als sie den Schlüssel in das Schloss steckte. Es quietschte wie immer ein wenig, und Gabriella sah, wie ihre Mutter selbst bei diesem vertrauten Geräusch zusammenzuckte. Dann sprang die Tür auf, und Gabriella wurde in die kleine Diele geschoben.
Camilla warf die Tür hinter sich zu und schob die Riegel vor. Sekundenlang lehnte sie sich von innen an die Tür, als wollte sie damit das Eindringen der Verfolger verhindern, schloss die Augen und lauschte hinaus. Sie flüsterte etwas, das Gabriella nicht verstand.
Dann stieß sie sich von der Tür ab und ging durch den engen Flur in das kleine, nach Schimmel und Kanalwasser riechende Wohnzimmer. Sie öffnete alle Fenster und machte einen langen, tiefen Atemzug, ehe sie sich auf einen der wackeligen Stühle fallen ließ, die um den Tisch standen, und das Gesicht in den Händen verbarg.
Gabriella war in der Tür zum Wohnzimmer stehen geblieben. »Er hat sie geholt«, flüsterte sie. »Sie war böse. Sie …«, Gabriella versuchte, ihre Empfindungen, die Erinnerung, in Worte zu fassen, »sie wollte, dass ich tot bin.«
Ihre Mutter fuhr hoch. »Die Frau, die auf die Brücke lief und dann plötzlich weg war?«
Dann hatte ihre Mutter das Verschwinden der Frau also auch bemerkt!
»Er hat sie festgehalten, bevor sie mich erreichen konnte. Er hat mir geholfen.« Sie war sich nicht sicher, ob es Absicht oder Zufall war. Die Bilder wirbelten durch ihren Kopf. Wirklich klar in ihrer Erinnerung war nur der Blick des Mannes haften geblieben, dessen Intensität, der fassungslose Unglauben darin. Viele Jahre später sollte sie noch etwas anderes darin finden – eine schmerzliche Sehnsucht –, aber davon ahnte sie an diesem Tag nichts. Noch war der Graue, der Jäger, ein Fremder für sie.
»Und dann hat er mich angesehen«, fuhr die kleine Gabriella fort. »Ich glaube, er ist ziemlich erschrocken, weil ich ihn auch gesehen habe.«
Für einige Herzschläge war Camilla wie erstarrt. Und dann waren ihre Worte leise und kaum verständlich, als würde etwas ihre Kehle zuschnüren. »Er hat bemerkt, dass du ihn sehen kannst?«
Gabriella nickte heftig und ging auf ihre Mutter zu. Camilla hatte ihr vor Jahren schon verboten, diese Männer zu beachten, die offenbar nur sie und sonst niemand sehen konnte. Sie waren auch nicht oft aufgetaucht, höchstens einmal als ein vorbeigleitender Schatten, ein Schemen an einer Hausmauer, der mit ruhigem, gleichgültigem Blick die Menschen musterte. Sie hatte heimlich hinübergeschielt, um sie zu beobachten, aber diese Männer hatten ihr nie die geringste Beachtung geschenkt. Nie zuvor jedoch hatte sie einen dieser Grauen so deutlich gesehen wie diesen, heute auf der Brücke. Und schon gar nicht hatte sie einen von ihnen je berührt, geschweige denn, dass sie durch einen von ihnen hindurchgelaufen war. Sie wusste, dass sie etwas getan hatte, was ihre Mutter ihr schon vor Langem streng verboten hatte, aber sie war verwirrt und hoffte, ihre Mutter würde ihr erklären, was geschehen war. Sie hatte Angst vor der Frau gehabt, vor deren
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