Tochter des Glueck
und entspannen uns von der harten Tagesarbeit. Ta-ming sitzt auf dem Boden und zupft an den Saiten einer Geige herum. Soviel ich gehört habe, war sein Vater gebildet. Die Geige – einer der wenigen persönlichen Gegenstände des Grundbesitzers, die während der Befreiung nicht zerstört oder konfisziert wurden – gehört jetzt Ta-ming. Manchmal zupft er an den Saiten, so wie jetzt, oder er hält sie wie eine erhu – aufrecht auf dem Schoß – und fährt mit dem Bogen über die Saiten. Es klingt schrecklich, aber nicht so schlimm wie einige der Militärmärsche, die aus den Lautsprechern dringen.
Wenn wir zusammen sind, baut Joy normalerweise die Mauern ab, die sie umgeben. In ihrem Inneren steckt immer noch diese Niedergeschlagenheit, aber an manchen Abenden lacht sie, erzählt Witze, sogar Klatsch. Dann fühle ich mich meiner Tochter näher denn je, als wären wir dazu übergegangen, nicht mehr Mutter und Tochter, sondern Freundinnen zu sein. Aber heute Abend belastet sie etwas. Ich scheuche Yong, Kumei und Ta-ming zur Tür hinaus. Dann setze ich mich in die Nähe der Wanne und sehe Joy zu, wie sie sich die Haut schrubbt, als könnte sie damit ihre Seele reinigen. Wenn ich es schaffe, über meine Fehler und mein Versagen zu sprechen, begreift sie vielleicht allmählich, dass sie sich selbst verzeihen muss. Meine größten Versäumnisse haben mit May zu tun, und Joy war stets dabei.
»Ich war nicht immer die beste Schwester«, beginne ich so beiläufig wie möglich. »Oft war ich ungeduldig mit May. Ich war nicht so verständnisvoll, wie ich es hätte sein können. Zwanzig Jahre lang stand außerdem Z. G. zwischen uns. Rückblickend ist mir klar, wie blind ich war. Ich habe ihn geliebt, aber er liebte May.«
»Du bist doch jetzt hier«, sagt Joy mit liebevoller Resignation. »Er kommt zurück, um dich zu holen. Ihr beide könnt immer noch zusammenkommen.«
Waa! Daran habe ich gar nicht gedacht. Z. G. kommt mich holen, wir fahren nach Kanton, wir wohnen in einem Hotel, wir … Aber dass Joy das sagt?
»Ich war keine gute Schwester«, wiederhole ich. »Seit ich nach China zurückgekehrt bin, hatte ich viel Zeit, darüber nachzudenken, wie schwer es May in all den Jahren gehabt haben muss …«
Joy schüttelt den Kopf, sie will das nicht hören.
»Das muss dir nicht gefallen, aber es ist die Wahrheit. Ich habe dich lieb, und du wirst immer meine Tochter sein. Für May muss das sehr schwer gewesen sein. Das verstehst du doch, oder?«
»Schon, aber warum solltet ihr mich wollen? Weshalb sollte mich überhaupt jemand haben wollen?«
Sie ist einfach noch so sehr Kind, sie braucht einen Beweis für meine Liebe und ihren Wert.
»Weil du klug bist. Du bist schön. Du hast viele Begabungen …«
»Zum Beispiel?«
»Du konntest schon sehr früh im Film auftreten. Du hattest Talent für die chinesische Sprache und Kalligrafie. Jetzt sehe ich, dass du mit einer Begabung geboren wurdest, die ich erst vor Kurzem erkannt habe – dein Geschick mit dem Pinsel. Es ist, als würde ich dich in den Pinselstrichen sehen.«
»Das sagst du alles nur, weil du musst. Nichts kann etwas daran ändern, dass mich meine leiblichen Eltern nicht wollten. Schon vor meiner Geburt wussten sie, dass ich ihrer Liebe nicht wert bin. Deshalb haben sie mich weggegeben.«
»Wie kommst du denn darauf?«, frage ich. Das ist schlimmer als ihre Schuldgefühle wegen Sams Selbstmord, denn es betrifft den Kern ihres Wesens, ihren Wert in unserer Familie und in der Welt. »Z. G. wusste nicht, dass May schwanger war. May hat dich so sehr geliebt, dass sie dich mir geschenkt hat, damit sie immer bei dir sein konnte. Und wenn wir ehrlich sind, wer hat mehr Zeit mit dir verbracht, als du klein warst – deine Tante oder ich?«
»Tante May.«
»Weil sie dich lieb hatte. Und ich habe dich auch lieb.«
»Aber verstehst du denn nicht? Das ist einer der Gründe, weshalb ich weggelaufen bin. Ihr habt immer über mich gestritten. Wenn ich geblieben wäre, hätte ich mich irgendwann zwischen euch entscheiden müssen.«
»Dich zwischen uns entscheiden? Ach, Süße, dass du das sagst, beweist doch nur, wie lieb wir dich hatten.«
»Aber ich habe es nicht verdient.«
»Natürlich hast du das. Deine Großeltern hatten dich lieb. Die Nennonkel hatten dich lieb. May und Vern hatten dich lieb. Dein Dad hatte dich lieb. Du warst eine Perle in seiner Hand. Und ich …«
Merkt sie denn wirklich nicht, wie sehr ich sie liebe? Meine Tochter und ich schauen einander
Weitere Kostenlose Bücher