Tochter des Glueck
an. Ich sehe, wie Joys harte Schale brüchig wird und darunter etwas Weiches zum Vorschein kommt, Verständnis. Sie wurde und wird geliebt. Tränen laufen ihr über die Wangen.
»Ich habe bei so vielen Dingen versagt«, sagt sie. »Ich habe Dad entäuscht. Ich habe dich und Tante May enttäuscht. Und ich bin keine gute Ehefrau.«
»Du kannst dir nicht für alles die Schuld geben«, sage ich, aber innerlich mache ich mir Vorwürfe. Wie kann sie all ihr Selbstvertrauen verloren haben? Hat Mays und mein Geheimnis ihr das angetan? Sie muss begreifen, dass keiner von uns vollkommen ist. »Auch ich war nicht die beste Ehefrau, Schwester oder Tochter.«
»Für mich warst du vollkommen.«
»Du weißt doch, dass ich in vielem versagt habe. Ich habe dich angelogen. May und ich haben es beide getan. Ich habe nicht genug unternommen, um deinem Dad zu helfen.« Ich zögere. Dieses Thema ist für uns beide noch sehr schmerzhaft, aber ich will sie nicht anlügen, auch nicht, wenn sie sich dadurch jetzt sofort besser fühlen würde. Sie hat mehr als das verdient. »Wir sind alle mitverantwortlich für das, was deinem Vater passiert ist. Keiner von uns ist unschuldig, aber wir sind deshalb auch nicht böse oder schlecht oder rettungslos verloren.«
Ich ziehe meinen Hocker zur Wanne hinüber, tauche eine Tasse ins Wasser und gieße sie meiner Tochter über den Kopf. Ich schäume ihre Haare mit Seife ein. Ich lasse alle Liebe, die ich in mir habe, aus meinen Fingern in den schmerzenden Körper aus Fleisch und Knochen fließen, der meine Tochter ist, in der Hoffnung, dass sie ihre Sorgen loslässt, die Vergangenheit abwäscht und sich endlich vergibt. Nach diesem Abend ist Joy nicht mehr so niedergeschlagen, und dafür bin ich dankbar.
P EARL
Ein vollkommener Kreislauf
G eburt, Heranwachsen, Verfall, Tod. Alle chinesischen Feste erinnern uns daran, dass wir Teil dieses Kreislaufs sind. Es ist der fünfzehnte Tag des achten Mondmonats, Mitte September im westlichen Kalender. Die Rekordernte wurde eingefahren, aber über all den Bemühungen, Stahl herzustellen oder bei den Wettbewerben mitzumachen, blieben ganze Felder einfach liegen, und die Melonen, Kohlköpfe und Rüben verrotteten. Der Reis wurde geerntet, doch selbst dieses äußerst wichtige Getreide wurde an den Halmen auf den Reisfeldern stehen gelassen oder liegt noch am Hauptplatz auf der Erde, wo wir es gedroschen, sortiert und getrocknet haben. Wir werden aufgefordert, zu essen, zu essen, zu essen. Das ist das genaue Gegenteil des sonst üblichen Denkens, denn schließlich weiß man nie, wann harte Zeiten kommen. Doch wir gehorchen und genießen die Fülle.
Normalerweise ist dies die Zeit der Ruhe und des Feierns, heißt es, aber in diesem Jahr ist es anders. Brigadeführer Lai hat angeordnet, dass die Arbeitsgruppen alles unterpflügen, was noch auf den Feldern ist, damit die Bauern den Winterweizen aussäen können. Die Saat soll so dicht wie möglich ausgebracht werden – vierzig bis fünfzig jin Saatgut pro mu statt nur achtzehn. Einige von uns werden zurück auf die Maisfelder geschickt, um die Stauden abzuschneiden, mit denen die Wände und das Dach der Kantine verstärkt werden sollen, bevor der Winter kommt. Bäume müssen noch gefällt und von den Hügeln heruntergebracht werden, um die Hochöfen weiter zu befeuern. Das meiste Metall scheint mittlerweile in diesen Öfen gelandet zu sein, und doch ist schon vor Sonnenaufgang bis lange nach Einbruch der Dunkelheit immer noch das boing, boing, boing von Metall auf Metall zu hören, um auch die letzten Spatzen in ihren unsinnigen Tod zu treiben.
Auch wenn Traditionen nicht mehr viel gelten, haben manche Dinge ihren angestammten, festen Platz. Heute kommt der Mond der Erde näher als zu jeder anderen Zeit des Jahres. Man nennt es jetzt vielleicht Mittherbstfest, aber für mich wird es immer das Mondfest sein. Taos Familie hat Kumei, Ta-ming und mich eingeladen, mit ihnen die Zusammengehörigkeit der Familie, die Ernte und den Mond zu feiern. Die Kantine hat Mondkuchen gemacht, gefüllt mit einer süßen Paste aus Datteln, Nüssen und kandierten Aprikosen. Auf der Oberseite ist das Bild einer dreibeinigen Kröte und eines Hasen eingeprägt. Ich bringe eine Schachtel Kuchen mit zu Joy. Tuanyuan , das Wort für Wiedervereinigung , bedeutet wörtlich vollkommener Kreislauf , und genau den verkörpern der Mond, die Mondkuchen und unsere Familie an diesem Abend. Jie Jie und ein paar der Kinder legen sich auf den Boden
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