Tochter des Glueck
habe einen Brief aus dem Dorf von Vater Louie bekommen.« Joy hält mir einen ungeöffneten Umschlag hin und zeigt auf den Absender. »Warum sollte mir jemand von dort schreiben?«
»Wahrscheinlich ein Brief von May«, sage ich. »Ich habe ihr geschrieben, dass wir hier sind.«
Joy lässt sich das durch den Kopf gehen.
»Mach ihn doch auf«, schlage ich vor.
Joy reißt den Umschlag auf. Ein Foto fällt heraus. Ich hebe es auf. May ist darauf zu sehen, in unserem Garten, umgeben von der typisch südkalifornischen, üppigen Pracht der Cécile-Brunner-Rosen. Sie hat einen kleinen, wuscheligen Kläffer im Arm.
»Zeig mal«, sagt Joy.
Ich reiche ihr das Bild, und die anderen kommen näher, um ebenfalls einen Blick daraufzuwerfen. Die Frauen von der Gruppe Graue Kraft blicken die Aufnahme ungläubig an. Sie zeigen auf Mays Kleidung – ein Rock, aufgebauscht von einem voluminösen Petticoat, einen schmalen Gürtel um die Taille und Seidenschuhe mit Pfennigabsatz, die farblich zu ihrer Bluse passen. Die anderen machen Bemerkungen über Mays Make-up und fahren mit den Fingern über ihre Frisur.
»Warum hält sie einen Hund im Arm?«, möchte Fu-shee wissen.
»Wieso hat sie überhaupt einen Hund?«, fragt Kumei.
»Das ist ein Schoßhund«, erklärt Yong, die aus Shanghai stammt.
»Ein Schoßhund? Was ist das?«
»Ein Tier, das man sich zum Spaß hält«, sagt Yong weltläufig. »Man spielt damit.« Als sie die ungläubigen Mienen der anderen Frauen sieht, fügt sie hinzu: »Zum Spaß!«
Missbilligendes Schnauben ertönt.
»Was hat Tante May geschrieben?«, frage ich.
Joy überlässt das Foto den Frauen, die weiter ihre Kommentare darüber abgeben und es mit einer Mischung aus Abscheu, Verwunderung und Aufregung betrachten. Es ist, als würden sie einen Filmstar aus vergangener Zeit anschauen, nur dass diese Frauen (abgesehen von Yong vielleicht) noch nie einen Film gesehen haben, gar nicht zu reden von einem Filmstar. Joy drückt den Brief an ihre Brust, aber nicht, weil sie verhindern will, dass die Frauen aus dem Dorf sehen, was dort geschrieben steht. May hat chinesische Schriftzeichen noch nie sonderlich gut beherrscht, deshalb bin ich mir sicher, dass sie den Brief auf Englisch geschrieben hat. Joy möchte nicht, dass ich sehe, was dort steht.
»Liebe Joy«, übersetzt meine Tochter langsam. »Offenbar sind Glückwünsche angebracht. Ich hoffe, Du bist sehr verliebt. Das ist der einzige Grund für eine Ehe.« Joy runzelt die Stirn. Das sind wohl kaum gute Wünsche, die von ganzem Herzen kommen. »Ich habe ein Foto beigelegt. Der Hund heißt Martin. Meine Freundin Violet hat ihn mir geschenkt. Sie meint, der Hund hilft mir gegen meine Einsamkeit. Sie weiß nicht, dass ich dem Hund den Namen eines besonderen Freundes gegeben habe.«
Ach, May. Ich schüttele den Kopf. Sie schreibt von ihrer Freundin Violet. Violet ist meine Freundin! Abgesehen von meiner Schwester war sie meine einzige Freundin. Und dann die Stelle über den Hund. Ich rede mir ein, dass Violet einfach nur nett zu meiner Schwester sein wollte, und damit komme ich zurecht. Aber wer ist dieser Martin – der besondere Freund, nicht der verdammte Hund? Ist May nicht klar, dass sie Witwe ist?
Ich kenne den wahren Grund für diese Worte. Sie zielen auf mich. Ich habe May regelmäßig geschrieben, und sie hat absichtlich geschwiegen. Ich mache ihr keine Vorwürfe. Ich bin hier mit Z. G. zusammen, und sie nicht.
»Du musst mir von Deinem neuen Leben schreiben«, liest Joy weiter vor. »Erzähl mir von Deinem Vater. Ich möchte zu gerne wissen, was ihr zusammen macht.« Diesen Teil muss Joy nicht laut vorlesen, tut es aber trotzdem. Offenbar hat der Brief etwas von ihrer Wut auf May und mich wiedererweckt, und sie wusste schon immer, wie sie einen Keil zwischen uns treiben konnte. »Bitte schreib mir zurück …« Joy blickt von dem Brief auf, sieht in die Gesichter um sie herum und sagt: »Er endet mit Glückwünschen zu unserer Rekordernte.«
Ich habe keine Ahnung, was May geschrieben hat, bin mir jedoch ganz sicher, dass es nicht das war. Joys Miene bleibt verschlossen, als wir zur Kantine gehen, und während des Essens ist sie schweigsam. Nach dem Essen kommt Joy wieder mit ins Hofhaus, um zu baden. Diese Abende sind mittlerweile zu einem Ritual geworden, auf das ich mich freue. Manchmal setzen sich Kumei und Yong – seitdem sie ihre anfängliche Zurückhaltung überwunden haben – in der Küche zu uns, und wir plaudern zusammen, trinken Tee
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