Tochter des Glueck
verbrannten die meisten der Bücher. Dann öffneten sie die Familiengräber, damit die Ahnen des Gebieters im Jenseits keinen Frieden finden würden. Unsere Betten durften wir behalten, die Musikinstrumente des Gebieters, einige Decken, Kochgeschirr und ein paar andere Dinge. Aber die Dorfbewohner waren noch nicht fertig. Sie zerrten die Söhne des Gebieters auf den Platz und schlugen ihnen mit einem Beil die Köpfe auf, bis das Gehirn herausquoll. Danach waren in den neunundzwanzig Zimmern nur noch der Gebieter, Yong und ich übrig.«
»Was ist mit eurem Gebieter geschehen?«, frage ich und offenbare damit wieder meine amerikanische Seite.
»Sie überließen ihn noch vier weitere Jahre seinem Schmerz, doch dann kamen sie ihn holen«, erinnert sich Kumei. »Es war Winter. Er musste sich bis auf ein dünnes Baumwollgewand ausziehen. Dann banden sie ihn an den Pagodenbaum und übergossen ihn mit kaltem Wasser. Sie ließen ihn die ganze Nacht dort stehen. Am Morgen war er tot, und der Stoff war an seinem Körper zu Eis gefroren. Die Dorfbewohner lachten und sagten, er trage ein Gewand aus Glas.« Sie hält einen Augenblick inne, bevor sie weiterspricht. »Um die Wahrheit zu sagen, in mancherlei Hinsicht war er schon auf dem Weg in die Nachwelt. Er hatte sich ja bereits von allen verabschiedet, die er gekannt und geliebt hatte. In manchen Nächten, wenn wir allein in seinem Zimmer waren, wollte er, dass ich für ihn Kleider von früher anzog. Erinnerst du dich an das Kostüm, das Sung-ling mich bei der Theateraufführung tragen ließ? Es gehörte zu den Kleidern, die mir der Gebieter angezogen hat. Sie waren weich, glänzend und hatten schöne Farben.«
»Sie waren aus Seide, Satin und Brokat«, übersetzt Yong für sie.
Mir fällt ein, dass Z. G., meine Mutter und meine Tante das nicht viel anders gemacht haben – immer dachten sie an die Vergangenheit, verkleideten sich, verkleideten mich. Aber ich muss zugeben, dass ich in diesem Winter hin und wieder sehnlichst an meine Levi’s gedacht hatte, an die schicken Kleider, die mir Tante May gekauft hat, die Kostüme von den Filmaufnahmen und das Cowgirl-Outfit, das ich als kleines Mädchen so liebte.
»Dann hat er mich angesehen, sein Instrument gespielt und geweint«, fährt Kumei fort.
»Die Violine«, fügt Yong erklärend hinzu.
»Nicht unsere chinesische Musik. Gefallen hat es mir nicht, aber es hat das Baby beruhigt.« Kumei schweigt, in Erinnerungen versunken. Schließlich spricht sie weiter. »Auch wenn ich so viel Blutvergießen mit angesehen hatte, auch wenn mir der gesunde Menschenverstand sagte, ich sollte weglaufen, meinen Gebieter konnte ich doch nicht allein lassen.«
»Ich konnte ihn auch nicht verlassen«, fügt Yong hinzu. »Die anderen Frauen im Hofhaus haben uns beide immer am schlechtesten behandelt, aber wir waren die treuesten.«
Kumei seufzt.
»Der Gebieter war kein schlechter Mensch«, wiederholt Yong, und diesmal nickt Kumei zustimmend.
Vielleicht wusstet ihr beide es bloß nicht besser , denke ich.
»Der Gebieter konnte seine Familie über dreißig Generationen zurückverfolgen«, sagt Yong. »Er hatte kaiserliche Gelehrte in der Familie, dadurch war er zu so viel Land gekommen. Er sorgte für die Leute im Gründrachendorf. Er war wirklich ein Wohltäter. Außerdem war er ein guter Musiker. Als ich noch ein Mädchen war, gaben mir meine Eltern in Shanghai Klavierunterricht. Mit gebundenen Füßen war das gar nicht so einfach! Ich habe den Gebieter auf einem Konzert kennengelernt.« Sie wendet sich an Kumei. »Habe ich dir das je erzählt?«
Kumei schüttelt den Kopf, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sowieso nicht weiß, was ein Konzert ist.
»Der Gebieter und ich haben immer zusammen gespielt«, fügt Yong wehmütig hinzu. »Wir waren gebildet, wie deine Mutter«, sagt sie zu mir.
Jetzt verstehe ich, warum sich Yong und meine Mutter so gut verstanden haben. Ihr Leben verlief unterschiedlich und doch ähnlich. Yong hat gebundene Füße; das Gesetz gegen das Füßebinden wurde nur vier Jahre vor der Geburt meiner Mutter erlassen. Yong heiratete einen wohlhabenden Mann, der sie aufs Land brachte; meine Mutter heiratete einen armen Mann vom Land, der sie von der Stadt, die sie liebte, wegbrachte. Beide hatten keine eigenen Kinder, doch Yong hat Kumei, und meine Mutter hat mich. Beiden wurde das Leben durch politische Umstände zerstört. Beide liebten die Männer, die sie geheiratet hatten, aus welchem Grund auch immer.
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