Vergiss die Toten nicht
PROLOG
D
ie fünfzehnjährige Nell MacDermott machte kehrt und schickte sich an, zum Ufer zurückzuschwimmen. Ihr Körper prickelte vor jugendlicher Begeisterung, als sie sich umsah und die strahlende Sonne am wolkenlosen Himmel und die schaumgekrönten Wellen betrachtete. Obwohl sie erst vor einer Stunde in Maui angekommen war, fand sie bereits, dass es hier viel schöner war als in der Karibik, wo die Familie in den letzten Jahren die Weihnachtsferien mit dem Großvater verbracht hatte.
Allerdings war der Begriff »Familie« ein wenig übertrieben, denn diese bestand seit vier Jahren nur noch aus Großvater und Nel selbst. Damals hatte man Cornelius MacDermott, den allseits bekannten New Yorker Kongressabgeordneten, mitten aus einer Sitzung des Repräsentantenhauses geholt, um ihm eine schreckliche Mitteilung zu machen: Sein Sohn und seine Schwiegertochter, beide Anthropologen, die sich gerade auf einer Forschungsreise im brasilianischen Dschungel aufhielten, waren beim Absturz ihrer kleinen Chartermaschine ums Leben gekommen.
Mr. MacDermott war sofort auf schnellstem Wege nach New York geflogen, um Nel von der Schule abzuholen, denn er wollte, dass sie die Hiobsbotschaft von ihm erfuhr.
Bei seiner Ankunft traf er seine Enkelin weinend im Zimmer der Schulkrankenschwester an.
»Heute Morgen nach der Pause hatte ich plötzlich das Gefühl, Mama und Papa wären bei mir, um sich von mir zu verabschieden«, sagte sie, während er sie in den Armen hielt.
»Sehen konnte ich sie zwar nicht, aber ich spürte, wie Mama mich küsste und wie Papa mir übers Haar strich.«
Noch am selben Tag übersiedelten Nell und die Haushälterin, die sich um sie kümmerte, wenn ihre Eltern auf Reisen waren, in das Backsteinhaus in der 79. Straße an der Ostseite von Manhattan, wo schon ihr Großvater und ihr Vater aufgewachsen waren.
Kurz kamen Nell diese Erinnerungen in den Sinn, als sie in Richtung Strand schwamm. Ihr Großvater saß dort in einem Liegestuhl unter einem Sonnenschirm. Nur widerwillig hatte er ihr erlaubt, vor dem Auspacken noch kurz ins Wasser zu gehen.
»Aber schwimm nicht zu weit raus«, hatte er sie ermahnt und sein Buch aufgeschlagen. »Es ist schon sechs Uhr, und der Bademeister macht gleich Feierabend.«
Gerne wäre Nel noch länger im Wasser geblieben, doch sie bemerkte, dass der Strand inzwischen fast menschenleer war.
Außerdem würde ihr Großvater sicher bald Hunger bekommen und ungeduldig werden, und sie hatten noch nicht einmal ihre Koffer ausgepackt. Vor vielen Jahren hatte ihre Mutter sie gewarnt, dass man am besten einen großen Bogen um Cornelius MacDermott machte, wenn ihm der Magen knurrte oder wenn er ein Nickerchen brauchte.
Selbst aus dieser Entfernung erkannte Nell, dass er noch in sein Buch vertieft war. Allerdings wusste sie, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein würde. Also gut, sagte sie sich und schwamm ein wenig schneller, dann legen wir eben ein bisschen Tempo vor.
Plötzlich jedoch hatte sie das Gefühl, die Orientierung zu verlieren. Es war, als zöge sie etwas gewaltsam in die entgegengesetzte Richtung. Was mochte das sein?
Der Strand verschwand aus ihrem Blickfeld, als sie hin- und hergerissen und unter Wasser gezerrt wurde. Erschrocken öffnete sie den Mund, um zu schreien, und schluckte dabei eine ordentliche Portion Salzwasser. Hustend und keuchend rang sie nach Atem und versuchte, sich über Wasser zu halten.
Eine Springtide! Während ihr Großvater sich an der Rezeption anmeldete, hatte sie gehört, wie zwei Hotelpagen sich darüber unterhielten. Einer von ihnen hatte von einer Springtide auf der anderen Seite der Insel erzählt, bei der vergangene Woche zwei Männer ertrunken waren. Seinen Worten zufolge waren sie gestorben, weil sie gegen den Sog angekämpft hatten, anstatt sich einfach aus der Gefahrenzone treiben zu lassen.
Eine Springtide entsteht durch das Zusammentreffen zweier entgegengesetzter Strömungen. Während Nell mit den Armen ruderte, fiel ihr diese Definition ein, die sie im National Geographie gelesen hatte.
Trotzdem konnte sie sich nicht entspannen, da die heftigen Wellen sie unbarmherzig nach unten und fort vom Ufer zogen.
Ich darf nicht aufs offene Meer abgetrieben werden, dachte sie in Todesangst. Das darf nicht passieren! Dann schaffe ich es nie wieder zurück. Kurz gelang es ihr, einen Blick auf den Strand und den bunt gestreiften Sonnenschirm zu erhaschen.
»Hilfe!«, stöhnte sie leise. Schreien war unmöglich, denn sobald sie den Mund
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