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Tochter des Glueck

Tochter des Glueck

Titel: Tochter des Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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mal etwas mehr als hundert Gramm Reisstärke – etwa eine halbe Schale Reisbrei am Tag, obwohl wir immer noch wie Tiere arbeiten und die bitterkalten Felder tiefpflügen.
    »Es gibt genügend Getreide«, versichert er uns, »aber ihr habt ein ideologisches Problem.«
    Nein, der wahre Grund liegt darin, dass er zu viel von unserer geringen Ernte an die Regierung abgegeben hat. Modellkommunen sind diejenigen, deren Führer die besten und größten Lügen erzählen. Nun begreift sogar Brigadeführer Lai, dass die Verdoppelung der Getreideernte in einem einzigen Jahr nur auf dem Papier erreicht werden kann. Doch um sein Versprechen einzulösen, wurden unser Reis, Weizen, die Hirse und das Sorghum zu nationalen Silos transportiert, damit die Leute in den Städten ernährt werden können. Der Volkskommune Löwenzahn Nummer acht bleibt fast nichts. Unsere Mahlzeiten in der Kantine bestehen aus seltsamen Zutaten – aus Maisstängeln, Maiswurzeln, getrockneten Süßkartoffelblättern und Wildgräsern wird Suppe gekocht, oder Pulver aus getrockneten Erbsen, Sägemehl, Eicheln, Ulmenrinde und Bimsstein werden zu Mehl gemahlen und zu schweren Fladen gemacht, die in der Pfanne gebraten werden. Die Leute, die als schwarze Elemente gelten – wie Kumei, Ta-ming und Yong –, bekommen noch weniger als die ohnehin geringe Lebensmittelzuteilung. Meine Mutter und meine Tante scheinen überhaupt nicht zu begreifen, was hier vor sich geht. Sie schicken weiterhin Pakete mit Leckereien für die Kinder statt richtiger Nahrungsmittel. (Die Briefe meiner Tante kommen unversehrt an, aber in den Briefen meiner Mutter sind ganze Absätze geschwärzt.) Kekse und Bonbons sind mehr, als andere Leute haben, deshalb dürfen wir uns wohl glücklich schätzen. Trotzdem vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke, wie hochmütig ich die Sondergutscheine zurückgewiesen habe, die mir als Überseechinesin zustanden. Was würde ich jetzt dafür geben.
    Der schleichende Verlust an Körpermasse und Gewicht kommt zum Stillstand. Wir leiden an der sogenannten Schwellkrankheit, denn wegen des Eiweißmangels bekommen wir Ödeme an Armen, Beinen, am Hals und im Gesicht. Unsere neue Nahrung ist scheußlich, wenn wir sie zu uns nehmen, und noch schlimmer, wenn wir sie ausscheiden. Manche von uns leiden unter Verstopfung, andere haben Durchfall. Für die Säuglinge und die Kleinkinder, die es nicht zum Kübel schaffen, ist das nicht so schlimm. Die Zwischenräume zwischen den Brettern auf dem Boden sind breit genug, sodass ihre Ausscheidungen einfach durchrutschen können. Für uns Ältere ist es problematischer. Wir bewohnen ein Haus mit zwei Zimmern und teilen uns einen einzigen Abortkübel. Natürlich stellt das, was unsere Körper ausscheiden, für Brigadeführer Lai genauso ein Problem dar wie das, was wir aufnehmen. Nicht nur in unserem Haus gibt es Verdauungsprobleme, deshalb schickt er seine Männer aus, um die hygienischen Verhältnisse zu überprüfen.
    »Putzt ihr euch noch die Zähne und wascht euch die Hände? Leert ihr jeden Morgen den Abortkübel und macht ihn sauber? Was ist das da in der Ecke? Warum habt ihr Fliegen, obwohl Winter ist?«
    Alles geschieht sehr schnell. Die Mitglieder der Kommune leiden zuerst an Hunger, dann an Unterernährung, dann sterben sie. Doch nur wenige sterben, weil sie nichts zu essen bekommen. Sie erliegen einem Herzinfarkt, bekommen Fieber und Erkältungen, die eine Lungenentzündung nach sich ziehen, kleine Wunden entzünden sich und führen zu Blutvergiftungen, oder die Leute essen etwas Verkehrtes und verlieren wegen des Durchfalls alle Flüssigkeit. Weibliche Säuglinge sterben zuerst, gefolgt von kleinen Mädchen und Großmüttern. Söhne, Väter und Großväter sterben nicht. Ein altes Sprichwort erinnert uns daran, dass es sechsunddreißig Tugenden gibt, aber keinen Sohn zu haben, macht sie alle zunichte. Das bedeutet, alles, was zu essen da ist, bekommen zuerst die Männer.
    »Wer soll denn sonst für die Familie sorgen?«, fragt Tao.
    Am liebsten würde ich entgegnen: »Bei uns hieß es immer, dass Frauen und Kinder zuerst gerettet werden sollten. Mein Vater war Chinese, aber selbst er war davon überzeugt.« Doch es hat keinen Sinn, mit meinem Mann zu streiten, und ich möchte auch nicht über meinen Vater Sam sprechen. Angesichts des Opfers, das er gebracht hat, kommt mir mein Hunger nichtig vor.
    Einige unserer Nachbarn versuchen, ihre Töchter zu verkaufen, aber niemand möchte Mädchen haben. Andere

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