Tochter des Glueck
Dekadenz«, sagt sie verächtlich. »Gib ihn mir.«
Ich gehorche und verschränke die Arme über der Brust.
»Du kannst dich wieder anziehen.«
Der Inspektor kehrt zurück, und ich werde eine weitere Stunde verhört. Mein Gepäck wird durchsucht, und einige Gegenstände, zum Beispiel mein zweiter BH, werden konfisziert. Ich steige wieder in den Zug. Wenige Augenblicke später überqueren wir die Grenze zu Festlandchina. Ich bekomme jedoch keine Gelegenheit, sie zu sehen, denn ein Wachposten betritt unseren Wagen und befiehlt, dass alle Jalousien geschlossen werden.
»Immer wenn wir an einer Brücke, einer Industrieanlage oder einer militärischen Einrichtung vorbeifahren, müsst ihr die Blende herunterziehen«, verkündet er. »Ihr steigt erst aus dem Zug aus, wenn das Ziel, das auf eurer Fahrkarte steht, erreicht ist.«
P EARL
Für immer schön
I ch verlasse den Bahnhof von Kanton in der Erwartung, das Auto vorzufinden, das mich ins Dorf Wah Hong bringt, aber es ist nicht da. Auf dem Parkplatz stehen gar keine Privatautos, ganz zu schweigen von Taxis. Ich sehe nur Fahrräder und beinahe identisch gekleidete Fußgänger. Alle sehen arm aus. Kanton war früher eine wohlhabende Stadt, deshalb sind die Veränderungen erschreckend. Als einige der anderen Fahrgäste – die von Übersee zurückkehrenden chinesischen Studenten – auf dem Weg zu ihrem speziellen Einreiseschalter an mir vorbeigedrängt werden, wende ich mich ab und gehe rasch in die entgegengesetzte Richtung. Ich bin zwar keine Studentin, aber ich möchte auch nicht zufällig in etwas hineingeraten, was mit Behörden zu tun hat. Ich gehe über den Parkplatz zum Gehsteig. Die Straße wimmelt von Fahrrädern, aber Taxis gibt es auch hier nicht. Nur sehr wenige Autos oder Lastwagen sind unterwegs. Ein paar Busse rumpeln vorbei, aber ich weiß nicht, wohin sie fahren. Ich frage einen Passanten, wie man nach Wah Hong kommt. Er hat noch nie davon gehört. Auch die nächsten nicht, die ich frage. Ich stehe da, knabbere an der Nagelhaut eines Fingernagels und habe keine Ahnung, was ich tun soll. Wenn der Mann vom Familienverband das nicht hinbekommen hat, wie soll ich mich dann in Sachen Post auf ihn verlassen?
Das ist kein guter Anfang.
Ich kehre zum Bahnhofseingang zurück und setze mich auf meinen Koffer. Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben, doch ich bin es keineswegs. Panisch trifft es eher. Aber ich nehme mir vor, noch eine halbe Stunde zu warten, und wenn mich dann noch niemand abgeholt hat, muss ich mir ein Hotel suchen. Schließlich hält ein verbeulter Ford vor mir, ein Überbleibsel aus besseren Tagen. Der Fahrer – eigentlich ist es noch ein Junge – kurbelt das Fenster herunter und fragt: »Pearl Louie?«
Bald schon haben wir Kanton hinter uns gelassen und befinden uns auf einer erhöhten, unbefestigten Straße, die uns während der, wie ich erfahre, eine Dreiviertelstunde dauernden Fahrt nach Wah Hong durch überflutete Reisfelder führt. Kanton erweckte den Anschein, als wäre es unter dem Kommunismus in der Zeit zurückgefallen, aber jetzt habe ich das Gefühl, ich würde ein ganzes Jahrhundert oder noch mehr zurückspringen. Wir kommen an kleinen Dörfern vorbei, die aus ein paar wenigen Bauernhütten bestehen. Mich schaudert. In einer solchen Hütte wurde ich vergewaltigt und meine Mutter umgebracht. All die Jahre sehnte ich mich nach den fröhlichen, bunten Straßen von Shanghai zurück, aber das ländliche China habe ich nie vermisst. Trotzdem bin ich nun da. Ich setze mentale Scheuklappen auf, wegen der schrecklichen Erinnerungen. Ich bin hier, doch ich tue mein Möglichstes, es nicht wahrzunehmen.
Als wir nach Wah Hong kommen, frage ich den Erstbesten, der mir begegnet, ob er Louie Yun kennt. Wah Hong ist eines dieser kleinen Dörfer mit höchstens dreihundert Einwohnern, die alle den Clannamen Louie tragen und die alle mit meinem Schwiegervater verwandt sind. Man bringt mich zum Haus von Louie Yun. Sie sind sehr überrascht über meinen Besuch! Tee wird eingeschenkt, Knabbereien werden gereicht. Andere Verwandte drängen herein, um mich kennenzulernen. Doch sosehr ich mich bemühe, nicht zu sehen oder zu fühlen, dass ich in einer Hütte bin – ich bin es doch, und alle möglichen Erinnerungen stürzen auf mich ein.
Als ich am Ende der Weltwirtschaftskrise nach Los Angeles kam, waren meine Schwiegereltern und alle Leute, die ich dort kennenlernte, ärmer als alle, die ich in Shanghai gekannt hatte. In Chinatown mochten wir
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