Tochter des Glueck
betrachte die Mädchen nacheinander. Sie alle sind etwa so alt wie Joy. Was für ein Mann ist Z. G.? Kann er immer noch keinem hübschen Gesicht widerstehen?
»Kam in letzter Zeit Besuch?«, frage ich. »Vielleicht eine junge Frau?«
»Es kommen ständig welche«, fiepst das Mädchen mit dem Bubikopf.
Ich beiße die Zähne zusammen. Lange Zeit hatte ich das Gefühl, wie ein Dienstmädchen zu leben, aber ich war keines. Ich war nicht vorlaut …
»Ich suche meine Tochter«, sage ich ernst und schicke mich an, meine Geldbörse wegzustecken.
»Die kennen wir!«
»Ja! Das stimmt!«
»Erzählt«, sage ich.
»Sie kam an dem Tag, an dem Herr Li aufgebrochen ist. Sie hat gesagt, sie sei seine Tochter. Sie kam von woanders …«
»Wie du.«
»Wo ist sie jetzt?«, frage ich.
»Sie ist mit ihm aufs Land gefahren.«
Das ist nicht die schlimmste aller Nachrichten, aber auch nicht die beste.
»Wisst ihr, wohin? In welches Dorf?«
Sie schütteln den Kopf. Sie können mir nicht helfen, nicht einmal, als ich ihnen mehr Geld anbiete.
Nachdem sie mich hinausbegleitet haben, bleibe ich noch eine Weile draußen stehen. Ich bin gegen eine weiße Wand gelaufen und habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Ich bin verzweifelt und habe entsetzliche Angst um meine Tochter. Sie ist mit jemandem zusammen, der in so großen Schwierigkeiten steckt, dass er offenbar die Verbannung einer Verhaftung vorgezogen hat. In meiner Hoffnungslosigkeit spreche ich unwillkürlich mit May, als könnte sie mich im weit entfernten Los Angeles hören. Ich habe unser Mädchen noch nicht gefunden. Sie ist bei Z. G., und dadurch könnte sie Schwierigkeiten bekommen – an so etwas haben wir überhaupt nicht gedacht.
Ich schüttle den Kopf, als Shanghai langsam wieder in mein Bewusstsein dringt. In der Ferne höre ich eine Straßenbahn und das Rumpeln eines Busses oder Lastwagens, aber ansonsten gibt es nur sehr wenige Verkehrsgeräusche. All die eleganten, tief liegenden Autos der Vergangenheit wurden durch Fahrradrikschas, Fahrräder, Eselskarren und Ziehwagen ersetzt. Ein Verkäufer preist seine Leckereien an. »Knackige, würzige Oliven! Frische Oliven! Kauft meine Oliven!« Seit zwanzig Jahren habe ich keine Oliven aus Shanghai mehr gegessen. Ich folge den Rufen zur Straßenecke und biege dann nach links. Dort ist ein Mann mit einem Korb auf der Schulter. Als ich näher komme, setzt er den Korb ab und hebt das feuchte Tuch, das darüber liegt. Er hat drei Sorten – dicke, dünne und braune. Ich nehme ein paar von den dicken. Noch bevor ich bezahle, stecke ich mir eine in den Mund. Genießerisch schließe ich die Augen, als sich aus dem laugenartigen Geschmack auf der Zunge etwas Leichtes, Erfrischendes und Belebendes entwickelt. Sofort werde ich in die Zeit zurückversetzt, als ich mit May und unseren Freunden Oliven gegessen habe – mit Tommy, Betsy und Z. G.
Die Geschmacksexplosion bewirkt irgendwie, dass ich einen klaren Kopf bekomme. Ich muss zurück zur Künstlervereinigung, um noch mehr Fragen zu stellen, aber zuerst muss ich herausfinden, wie ich am besten an Informationen von der Frau am Empfang herankomme oder sie umgehe. Zuerst brauche ich aber eine Unterkunft. Bestimmt finde ich jemanden, der mir ein Zimmer vermietet, wenn ich das Doppelte oder Dreifache des Normalpreises zahle, doch das will ich nicht.
Zu Hause . Jetzt bin ich in Los Angeles zu Hause – und das ist seltsam, nach dem Heimweh, das ich in all den Jahren nach dieser Stadt verspürt habe –, aber das Wort erinnert mich daran, das ich auch hier ein Zuhause hatte. Um dorthin zu kommen, muss ich über den Soochow Creek in das Hongkew-Viertel gehen. Rikschas sehe ich keine, aber ich bezweifle sowieso, dass ich nach meiner Ehe mit Sam noch in einer Rikscha fahren könnte. Würde ich jetzt eine sehen, ich würde vergehen vor Gram. Dennoch frage ich mich, wo die Rikschafahrer sind. Was ist aus ihnen geworden?
Ich eile zurück zum Bund und spreche noch einmal mit dem Inspektor, der Joy geholfen hat. Ich schiebe ihm sogar Geld zu, aber er beharrt darauf, dass er nicht mehr weiß, diese Ausgabe war also völlig überflüssig. Dann muss ich auch noch die Gebühr dafür zahlen, dass er mein Gepäck über Nacht aufbewahrt. Ich nehme nur meine Reisetasche und frage nach einer Bushaltestelle. Bei meiner Ankunft herrschte reger Betrieb auf den Straßen. Nun ist Feierabend, und auf den Gehsteigen drängen sich die Menschen, die Straße ist eine wogende Masse aus Fahrrädern. Das
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