Tochter des Glueck
Klingeln der Fahrräder ist beinahe beruhigend, wie Zikaden in einer heißen Sommernacht. Ich steige in den Bus nach Hongkew. Im Lauf der Jahre hat May immer wieder amerikanische Ausdrücke aufgeschnappt und uns andere damit fast in den Wahnsinn getrieben. Einer dieser Ausdrücke hieß »eng wie in einer Sardinenbüchse«. Jetzt verstehe ich, was sie damit gemeint hat. Von allen Seiten werde ich bedrängt. Die vertraute Panik steigt in mir auf, ich zwinge mich, sie zu unterdrücken und mit der knochigen Menschenmasse mitzuschwanken, wenn der Bus beschleunigt oder anhält.
In meinem alten Wohnviertel steige ich aus. Alles wirkt ganz vertraut und doch völlig anders. Straßenhändler und kleine Läden bieten auf engem Raum Waren und Dienstleistungen an: Man kann sich Fahrradreifen reparieren, die Haare schneiden oder Zähne ziehen lassen, es gibt Orangen, Eier und Erdnüsse, Eingangstor-Herrenunterwäsche, Rote-Fahne-Monatsbinden, Weißer-Elefant-Batterien. Ich biege in die Straße ein, in der ich früher wohnte. Die Häuser in meinem Block stehen noch alle. Früher wurden sie von unseren Nachbarn jedes Frühjahr in satten Erdfarben gestrichen: Dunkelviolett, Dunkelgrün oder Dunkelrot – Farben, auf denen man nicht so leicht den Staub und das Moos sieht, das im feuchten Klima von Shanghai so schnell wächst. Aber die Häuser sehen aus, als wären sie schon jahrelang nicht mehr gestrichen worden. Die Farbe ist fast völlig abgeblättert, und darunter kommt schmutziggrauer Putz zum Vorschein.
Doch das Treiben an den Sommerabenden hat sich nicht allzu sehr geändert, seit ich zuletzt hier war. Kinder spielen auf der Straße. Frauen sitzen auf den Stufen und putzen Erbsen, enthülsen Maiskolben oder verlesen Reis. Männer sitzen gemütlich auf Stühlen oder hocken auf umgedrehten Kisten, rauchen Zigaretten und spielen Schach. Man sieht mir nach. Ich traue mich nicht, die Blicke zu erwidern. Erkennen sie mich?
Das Haus meiner Familie kommt in Sicht. Der Magnolienbaum ist mittlerweile riesig, dadurch wirkt das Haus kleiner, als ich es in Erinnerung habe. Ich komme näher. Das geschnitzte Holzgitter, das böse Geister vom Haus fernhielt, hängt immer noch über der Tür, aber der Jasmin und die Zwergkiefern, die unser Gärtner früher gepflegt hat, sind verschwunden. Die Kletterrosen meiner Mutter umranken den Zaun, sie sind noch nicht abgestorben, aber welk und verwildert. Hauptsächlich »wächst« hier Wäsche, die über Büsche drapiert und an Leinen aufgehängt ist. Im Haus müssen viele Leute wohnen, andererseits wohnten auch schon viele hier, als May und ich fortgegangen sind. Auf den Eingangsstufen sitzt ein Mann. Er steht auf, als ich näher komme. Ich hätte mir zur Begrüßung ein paar Worte zurechtlegen sollen, aber offenbar ist das gar nicht nötig.
»Pearl? Du bist doch Pearl? Pearl Chin?« Er ist groß, dünn, etwa so alt wie ich. Er ist höflich und vornehm, aber schäbig gekleidet.
»Das war mein Mädchenname«, antworte ich unsicher. Wer ist das?
Er nimmt mir die Tasche ab und öffnet die Tür. »Willkommen zu Hause«, sagt er. »Wir haben lange auf dich gewartet.«
Meine Schritte hallen auf dem Parkettboden. Der Salon sieht noch genauso aus, wie wir ihn zurückgelassen haben. Ein Blick durch den Korridor und die Treppe hinauf zeigt mir, dass sich auch dort nichts verändert hat. Der Mann, der mich eingelassen hat, ruft die Namen anderer Leute, und sie kommen aus Zimmern, die Treppe hinunter, wischen sich die Hände ab, während sie aus der Küche gelaufen kommen. Genau wie im Bus bin ich von allen Seiten umringt. Sie schauen mich erwartungsvoll an. Unsicher erwidere ich die Blicke und habe keine Ahnung, was ich tun oder sagen soll.
»Weißt du nicht, wer wir sind?«, fragt eine Frau mittleren Alters.
Als ich den Kopf schüttle, stellen sie sich vor. Es sind genau die Leute, denen meine Eltern Zimmer vermietet haben, nachdem mein Vater das Geld unserer Familie verloren hatte: die zwei Tänzerinnen, die auf den Dachboden gezogen sind (allerdings sehen sie in ihren Arbeiteranzügen aus tristen, weiten blauen Hosen und weißen Blusen nicht mehr wie Tänzerinnen aus), der Schuster, der unter der Treppe wohnte (genauso drahtig und verhutzelt, wie ich ihn in Erinnerung habe), die Frau, die mit ihrem Mann, einem Polizisten, und zwei Töchtern den hinteren Teil des Hauses bewohnte (nur ist sie jetzt Witwe, und ihre Töchter sind verheiratet), der Student, der im Wintergarten im ersten Stock wohnte (der
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