Tochter des Glueck
unterhalten, und ich möchte den Bann nicht dadurch brechen, dass ich alles meiner Schwester erzähle. Doch obwohl ich nicht vollkommen bin, ginge es zu weit, meiner Schwester nicht zu schreiben. Das wäre brutal und unnötig, und sie würde sich zu viele Sorgen machen. Ich halte mich wieder an die Politik.
20. Juni 1958
Liebe May,
es ist fast drei Monate her, seit die erste Volkskommune gegründet wurde. Eine Kommune wird gebildet, wenn mehrere Kollektive oder Dörfer zusammmengefasst werden, um sich die Arbeit und den Profit zu teilen. Jetzt gibt es überall Kommunen! Manche haben 4000 Mitglieder, manche sogar 50 000. Wir in Shanghai helfen unseren Genossen auf dem Land. Wir haben schon immer unsere Fäkalien auf Lastkähnen zu den Bauern geschickt. Jetzt warten wir alle auf diese Augenblicke des Tages, wenn wir mit unseren Körperausscheidungen den Aufbau des Sozialismus und das Erreichen unserer Ziele unterstützen können. Wir empfinden eine unglaubliche Freude, Aufregung und Stolz, wenn die Fäkalienschiffe den Bund verlassen und flussaufwärts zu den Kommunen fahren.
Der Stahl, den die Leute produzierten, hat dem Vorsitzenden Mao großes Vertrauen in unsere Fähigkeiten gegeben. Zuerst sollten wir die Stahlproduktion Großbritanniens in fünfzehn, dann in sieben und dann in fünf Jahren übertreffen. Jetzt sollen wir das in zwei Jahren schaffen! Gleichzeitig hat er verkündet, dass wir unsere Getreideernte verdoppeln werden. Der Vorsitzende Mao sagt, die Kommunen sind das Tor zum Himmel. China wird den Sozialismus überspringen und direkt zum Kommunismus übergehen können. Ich wünschte, Du wärst hier, um all die Veränderungen zu sehen. Du würdest vor Glück gleichzeitig lachen und weinen.
Es ist ein Segen, dass Joy niemals Heimweh nach dem Land ihrer Geburt hat. Sie genießt das Land ihres Blutes. Sie begreift, dass sich das wahre freie Denken entwickelt, wenn jeder der Kommune gehorcht. Ihr geht das Herz über vor Idealismus.
Du solltest an Dein Vaterland denken und Geld schicken,
um die Nation aufzubauen.
Liebe Grüße, Pearl
Ich bin sicher, May wird die nicht allzu verborgenen Botschaften über den Wahnsinn dieser Kommunen, die Lächerlichkeit der Ziele des Großen Sprungs nach vorn und meine Angst um Joy verstehen.
Am 28. Juli bekomme ich ein Päckchen aus Wah Hong. Darin finde ich einen Rock und eine Bluse. Ich schneide die Naht am Kragen auf und finde zwanzig Dollar darin sowie eine kurze Nachricht von May.
Ich setze großes Vertrauen in meine Schwester, aber Du musst dich mehr anstrengen, Joy zu überzeugen, nach Hause zu kommen. Und Du hast mir immer noch nichts von Z. G. erzählt. Hat Joy ihn gefunden?
Ich habe ihr verschlüsselte Briefe geschickt – und Dinge weggelassen, die ihr sicherlich auffallen würden –, und dann schickt sie mir eine Nachricht, von der sie wissen muss, dass sie mich verletzt! Ich muss mich »mehr anstrengen, Joy zu überzeugen«, China zu verlassen, als hätte ich nicht mein Leben aufgegeben, um hier zu sein, als würde ich nicht jeden einzelnen Tag kämpfen, um mich stark zu machen für den Moment, in dem ich zu ihr durchdringen kann? Und natürlich ist dann da noch die Sache mit Z. G.
Ich verstecke den Brief mit den anderen, die ich bekommen habe, und schreibe im Plauderton zurück.
Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, kocht Dun – erinnerst Du Dich an den Studenten, der den Wintergarten im ersten Stock gemietet hat? – oft Tee für mich. Wir setzen uns zusammen in den Salon und reden über Bücher. Neulich habe ich in einem Leihhaus eine von Mamas Ätzglasvasen entdeckt. Ich habe sie gekauft, und nun steht sie auf unserem Frisiertisch. Ich habe Rosen aus dem Garten hineingestellt, deren Duft den Raum erfüllt.
Ich schreibe nichts von den Dingen, die den Zensoren nichts sagen, meine Schwester jedoch verletzen würden. Doch sie ist ungeduldig mit mir geworden. Ihr nächster Brief ist der kürzeste:
Hast Du Z. G. gesehen? Triffst Du Dich etwa mit ihm? Sag es mir doch einfach, denn wir haben einander genug wehgetan.
Ich starre auf ihre Wörter. Wahrscheinlich hat meine Schwester das spätnachts geschrieben, sonst wäre sie nicht so direkt gewesen. Ob sie wohl ins Innere des Hauses gezogen ist? Weg von der Veranda mit dem Fliegengitter? Schläft sie in Verns Bett? In dem von Vater Louie? In meinem? Unser Haus war nicht groß, aber jetzt ist sie allein, und es muss ihr riesig vorkommen.
Drei Tage später kommen Z. G. und Joy mit Neuigkeiten zu
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