Tochter des Glueck
mir. Beim Großen Sprung nach vorn geht es nicht nur um Stahl und Getreide, erzählen sie mir. Alle 600 Millionen Chinesen müssen »hinausgehen, sich hohe Ziele stecken und größere, schnellere, bessere und wirtschaftlichere Ergebnisse dabei erzielen, den Sozialismus aufzubauen«. Um diesen Auftrag zu erfüllen, wird Z. G. zurück aufs Land geschickt, wo er mehrere Dörfer besuchen soll. Beunruhigt stelle ich die naheliegende Frage.
»Wird Joy dich begleiten?«
»Ja, wir gehen aufs Land«, antwortet Joy für ihn.
Ich möchte nicht, dass sie zurück aufs Land geht. Sie kann nicht dorthin, wenn Z. G. hierbleibt. Ich wende mich an ihn. »Du bist berühmt. Du musst das nicht tun, oder?«
Z. G. sieht mich streng an. »Ich habe die Wahl«, sagt er. »Alle Kunststudenten und Künstler müssen drei bis sechs Monate auf dem Land verbringen und die Massen dazu bewegen, Kunst hervorzubringen, ansonsten können sie auch drei bis sechs Monate in einer Fabrik arbeiten.«
Er erklärt weiter, dass die Fabriken sich neue Herausforderungen gestellt haben. Sie wollen in einer Woche mehr Taschenlampen, Radios oder Thermoskannen produzieren als bisher in einem Monat. Baumwollspinnereien haben die Menge an Stoff, die sie pro Jahr produzieren, heraufgesetzt. Z. G. möchte lieber Kunst herstellen – das entspricht mehr seinem Wesen –, als sich in einer Fabrik verlieren, aus der er vielleicht nie mehr herauskommt.
»Ich versuche, das als Ehre und als Privileg zu betrachten. Die Regierung möchte, dass besonders viel Kunst entsteht«, erklärt Z. G. »Dafür brauchen wir zusätzliche Hände. Diese Hände sind dort, wo sie schon immer waren. Auf dem Land.«
»Aber Bauern sind keine Künstler.«
Ich versuche, ihn mit Logik dazu zu bringen, nicht aufs Land zu gehen – und meine Tochter mitzunehmen –, aber Joy hält das für eine politische Auseinandersetzung.
»Du hast Z. G. nicht unterrichten sehen«, sagt sie. Ihre Augen funkeln genauso, wie wenn sie über die Revolution spricht. Sie zitiert mehr oder weniger Mao: »Solange wir Begeisterung und Entschlossenheit zeigen, können wir alles erreichen!«
Wie schon zu der Zeit, als wir jung waren, nimmt Z. G. einen pragmatischeren Standpunkt ein. »Taiwan und die Vereinigten Staaten sind Verbündete. Sie versuchen eine Allianz mit Japan und Südkorea zu bilden. Das gefällt dem Vorsitzenden Mao nicht, und er will der Welt unsere Stärke zeigen.«
»Aber wie soll ein Haufen schlechter Bilder – gar nicht zu reden von Tausenden billiger Taschenlampen – der Welt dort draußen irgendetwas beweisen?«
»Seit Jahren wird die rote Gesinnung dem Können übergeordnet«, antwortet Z. G. »Es kommt auf Quantität an, nicht auf Qualität, wenn wir uns dieser neuen Herausforderung stellen wollen. Joy und ich fangen jedenfalls im Gründrachendorf an, wo wir im letzten Sommer waren. Es gehört jetzt zu einer Kommune. Wenn wir dort fertig sind, geht es weiter Richtung Süden in andere Kommunen. Anfang November soll ich auf Wunsch der Künstlervereinigung zur Messe nach Kanton. Danach kehren wir nach Hause zurück.« Er hält inne, bevor er hinzufügt: »Hoffe ich.«
Das ist eine lange Zeit, und ich möchte nicht wieder von meiner Tochter getrennt sein.
»Willst du wirklich so lange wegbleiben?«, frage ich Joy vorsichtig.
»Ach, Mom, kapierst du denn gar nichts? Wir sind hier, weil wir dich bitten wollen, mit uns zu kommen. Z. G. hat eine Genehmigung für uns alle.«
Mom. Sie hat mich Mom genannt.
»Ich will dir alles zeigen«, fährt Joy fort. »Nimm deine Kamera mit, dann kannst du Bilder machen. Bitte sag Ja.«
Seit ich hier bin, hat mich Joy zum ersten Mal um etwas gebeten. (Die Abendessen zu dritt waren allesamt Z. G.s Idee.) Sie möchte wirklich, dass ich mitkomme, das merke ich. Und das gibt den Ausschlag für mich, mit ihnen aufs Land zu fahren, auch wenn mir bei der Vorstellung nicht ganz wohl ist.
Nach einem ausführlichen Gespräch mit Inspektor Wu bekomme ich eine Reiseerlaubnis. Ich rechne zusammen und tausche ein paar meiner Dollars bei der Kommission für Belange von Überseechinesen gegen Sondergutscheine. Bevor ich Shanghai verlasse, schreibe ich ein letztes Mal meiner Schwester. Ich weiß, es wird ihr wehtun. Ich wollte ihr irgendwann die Wahrheit sagen, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so aussehen würde.
Z. G. und ich fahren mit Joy aufs Land.
Ich stelle mir vor, wie May bei uns zu Hause diese Zeile liest. Sie wird das Schlimmste von mir annehmen. Das weiß
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