Tochter des Glücks - Roman
zu stinken. Ich hoffe, ich schaffe es, sie immer wieder zu bewegen und ihre Essenszuteilung zu bekommen.«
Viele Familien tun das. Sie verstecken die Leiche von Mutter, Vater, Bruder, Schwester, Ehefrau, Ehemann, Großmutter oder Großvater im Haus, damit sie in der Kantine jeden Tag eine zusätzliche Ration abholen können.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und denke an die alte Frau. Sie hat in den letzten zehn Jahren ihres Lebens so viele Erniedrigungen hinnehmen müssen. Ich schlucke, dann sage ich: »Ich helfe dir, sie zu tragen, wenn du willst.«
Hunger zu leiden ist grausig, aber Kumei nickt dankbar.
»Ta-ming ist sehr schwach«, erzählt sie mir. »Er ist schon zwei Tage nicht von seiner Matte aufgestanden.«
»Hast du denn nichts, was du ihm geben kannst?«
Sie antwortet nicht. Wir kennen die Antwort beide: Nein. Und jetzt, nachdem der Brigadeführer ausgezogen ist, kann sie ihrem Sohn nicht einmal mehr geben, was Lai übrig gelassen hat.
Kumei nimmt mich mit zu Yong, die eingerollt daliegt wie ein Baby. Selbst im Tode trägt sie die weiße Schleife der Denunziation. Kumei und ich setzen uns auf den Bettrand. Ich lege die Hand auf Yongs Knöchel und erzähle meinen beiden Freundinnen, dass ich mit Tao geschlafen habe. Yong antwortet natürlich nicht. Kumei versucht, teilnahmsvoll zu schauen, aber ich weiß, was sie denkt: Ich brauche etwas zu essen.
Wir sind in den Klauen des Hungers gefangen, und diese Vorstellung quält uns. So hungrig und schwach wir auch sein mögen, wir wissen, dass wir morgen und die nächsten sechs Tage, bis zum nächsten Sonntag, arbeiten müssen. Wir müssen Pflüge ziehen, Brunnen graben, pflanzen und Unkraut jäten, von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Danach folgt eine politische Versammlung oder eine öffentliche Kritik, und Kraft gibt uns dabei lediglich eine Schale Spiegelsuppe – so dünn, dass man sich darin spiegelt.
Flüchtig betrachte ich mich in Yongs Spiegel. Mein Körper ist dünn wie eine Ginsengwurzel. Meine Hände sind knochig wie getrocknete Zweige. Meine Haut ist durchscheinend. Die Haare hängen leblos herab. Meine Lippen, die weich und voll waren, sind so sehr geschrumpft, dass fast nichts von ihnen übrig ist. Am zwanzigsten dieses Monates werde ich zweiundzwanzig, aber der Hunger hat mich in eine alte Frau verwandelt, die dem Tode nahe ist. Ich denke an meine Freunde Hazel und Leon in Chinatown. Hazel ist wahrscheinlich verheiratet, und Leon hat mittlerweile wohl sein Examen in Yale gemacht. Wenn ich zu Hause geblieben wäre … Was wäre passiert? Vielleicht hätte ich Arbeit, eine eigene Wohnung, mein erstes Auto …
Später gehe ich langsam den Hügel hinauf zu meinem Haus. Auf der Terrasse rührt sich noch immer nichts, aber ich sehe, dass meine Schwiegermutter draußen auf dem Herd einen Topf Wasser aufgesetzt hat: Frühstück.
Tao, Fu-shee, Jie Jie und ein paar der Kinder sind wach und angezogen, bemerke ich beim Eintreten. Sie sitzen auf Hockern und Kisten um den Tisch. Sie sprechen nicht und geben auch sonst keine Geräusche von sich. Sie zappeln nicht und schubsen sich nicht. Sie sind völlig auf etwas in der Mitte des Tisches konzentriert. Sie warten und beobachten es. Irgendwie leuchten ihre Augen wie die von Tieren, und doch sind sie glanzlos wie Erde.
Ich gucke ihnen über die Schulter, um zu sehen, was sie da anschauen. Es ist etwas Kleines, das in eine Decke gehüllt ist.
»Samantha!«, schreie ich.
Ist es möglich, dass sie in den wenigen Minuten, die ich weg war, gestorben ist? Das Bündel bewegt sich. Als ich die Arme ausstrecke, um mein Baby zu nehmen, höre ich ein seltsames bellendes Geräusch. Ich ziehe die Hände zurück. Das ist nicht Sam. Ich weiß, wie sie schreit.
Die ganze Zeit über hat sich mein Mann nicht gerührt. Seine Augen sind wie Kohle – tot und undurchsichtig. Ich zittere am ganzen Körper, als ich über eines der Kinder greife und das Bündel nehme. Ich schlage die Decke zurück. Es ist Sung-lings Baby, das aussieht, als wäre es Stunden, vielleicht sogar Minuten, vom Tod entfernt.
»Wo ist Sam?«, frage ich.
Sie sehen mich an, hungrig, verzweifelt, als hielte ich ihre letzte Mahlzeit im Arm. Entsetzt trete ich einen Schritt zurück. Ich halte tatsächlich ihre letzte Mahlzeit im Arm! Hinter vorgehaltener Hand wurde über etwas geflüstert, was die Bewohner des Schwarzbrückendorfs getan haben. Man nennt es I Tzu, Erh Shih – Kind tauschen, Essen kochen: Die Mütter tauschen die Säuglinge,
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